Die Sensibilisierungsarbeit auf Social-Media-Plattformen hat eine erhebliche Bedeutung erlangt, was insbesondere Menschen mit chronischen Krankheiten zu Gute kommt. Es ermöglicht den Aufbau von Gemeinschaften, fördert den Austausch, die Vertiefung von Wissen und bietet eine Plattform, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Jedoch habe ich manchmal den Eindruck, dass dabei gelegentlich die Grenzen des Sinnvollen überschritten werden.


Aufklärung über Aufklärung und für alles gibt’s ein Label

In der heutigen Zeit zeichnet sich ein deutlicher Trend ab, für nahezu jedes Phänomen, Verhalten oder Gefühl eine spezifische Etikettierung zu finden – ein Wandel gegenüber früher, als vieles oft einfach nur hingenommen wurde oder ungesehen blieb. Diese Entwicklung bringt eine verstärkte Sensibilisierung und Reflexion mit sich, insbesondere in der Gesundheitsversorgung.

Begriffe wie „Medical Gaslighting“, bei dem die gesundheitlichen Beschwerden einer Person von medizinischen Fachkräften nicht ernst genommen oder heruntergespielt werden, haben an Bedeutung gewonnen. Auch Konzepte wie „Diagnose-Verzögerung“, die lange Zeitspannen bis zur korrekten medizinischen Diagnose beschreibt, oder „Gesundheitsanalphabetismus“, der auf die Schwierigkeit einiger Menschen hinweist, medizinische Informationen zu verstehen und zu nutzen, sind Teil dieses Wandels.

Gibt’s etwa Einwände?

Etwas zu benennen, lässt es sichtbar werden. Besonders für Angehörige von Gemeinschaften mit chronisch seltenen Erkrankungen ist dies von unschätzbarem Wert. Bewusstsein wiederum ist der Schlüssel für das Verständnis für vielfältige Probleme sowohl innerhalb der Gemeinschaft der Betroffenen als auch in der breiteren Öffentlichkeit. Gleichzeitig wird die Kommunikation über die Herausforderungen, mit denen Menschen mit chronischen Erkrankungen konfrontiert sind, verbessert und somit auch der Weg für Lösungsansätze geebnet.

Spätestens jetzt wird deutlich, warum Gemeinschaften chronisch Erkrankter so stark auf die sorgfältige Verwendung von Sprache setzen. Die damit einhergehende Euphorie hat also ihre Berechtigung. Oder gibt’s etwa Einwände?

Beispiel Ableismus

Betrachten wir mal den Ableismus, ein Label, das derzeit überall um sich schlägt wie ein Schnupfen. Gut so, wie ich finde, denn seht, was Ableismus bedeutet:

Ableismus bezeichnet Diskriminierungen, Vorurteile oder Stereotype gegenüber Personen mit Behinderungen. Es bedeutet Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen als weniger wertvoll oder fähig im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen zu bewerten. Ableismus manifestiert sich sowohl in offensichtlichen Handlungen als auch in subtileren Einstellungen und Strukturen innerhalb der Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen benachteiligen oder ausschließen. Dazu gehören beispielsweise der mangelnde barrierefreie Zugang zu öffentlichen Gebäuden, Bildungseinrichtungen oder Arbeitsplätzen, aber auch herabwürdigende Sprache.

Ableismus ist bunt und wird dennoch oft übersehen. (Bild: wirbelwirrwarr)

Um Ableismus entgegenzuwirken, ist es entscheidend, insbesondere bei Menschen, die nicht von chronischen Erkrankungen oder Behinderungen betroffen sind und denen es deshalb an entsprechenden Problemerfahrungen fehlt, ein Bewusstsein für dieses Schwierigkeit zu schaffen. Soweit, so gut.
Ich finde allerdings: Frust und Verzweiflung auf Seiten derer, die Ableismus ausgesetzt sind, führen manchmal zu einer sehr strikten Erwartungshaltung, die von außen betrachtet kompromisslos und übertrieben erscheinen kann.

Ist das noch zielführend?

Schaut mal, was ich neulich auf Instagram zu diesem Thema las:

„Ableismus findet nicht nur dann statt, wenn Menschen […] etwas nicht zugetraut wird, sondern auch, wenn sie zum Beispiel für ihre Tapferkeit bewundert werden.“

Seht ihr, das ist so ein Beispiel, wo ich nicht mehr mitkomme. Mein erster Gedanke, als ich das las, war: Ist sowas noch zielführend?

Ohne Frage spricht nichts dagegen, dass chronisch Kranke für ihre Bedürfnisse eintreten. Aber das kann ab einem gewissen Punkt überrumpelnd wirken. Es ist doch so:

Ein gesunder Mensch kann keine Vorstellung davon haben, wie es ist, in einem unzuverlässigen und/oder beeinträchtigten Körper zu leben und ständig auf Hilfe angewiesen zu sein. Er lebt unter vollkommen anderen Umständen in einer ganz anderen Problemwelt als Kranke und Behinderte es tun. „Eben! Dafür ja die Aufklärung“, sagt ihr jetzt vielleicht. Aber geht es nicht ein wenig zu weit, jemandem, der bereit ist, sich neben seiner eigenen auch noch die Problemwelt anderer aufzubürden, mit Belehrungen und Korrekturen zu begegnen – insbesondere, wenn er es gut meint und der „Verstoß“ eigentlich verkraftbar ist?

Aufklärung kann explosiv werden. (Bild: wirbelwirrwarr)

Seid nicht allzu streng

Ich denke mir oft: Nur weil jemand körperlich gesund ist, heißt das nicht, er hat keine schwerwiegenden Probleme. Stellt euch vor, so jemand bringt trotzdem die Kraft auf, ein Auge auf uns Kranke und unsere Bedürfnisse zu haben. Vielleicht wünscht sich dieser Mensch im Gegenzug, dass wir als Community nicht allzu streng mit seiner Wortwahl sind, sondern einfach dankbar, dass er uns seine Zeit und Kraft schenkt.

Und seid mal ehrlich: Konstruiert ihr, was ihr sagt, immer in mühevollem Bewusstsein darüber, ob es eventuell falsch verstanden werden könnte? Nein! Denn alles, was wir sagen, besteht aus vorgefertigten Bausteinen, damit unser Gehirn möglichst wenig Ressourcen für die Expression unserer Gefühle aufwenden muss und diese an anderer Stelle sinnvoll einsetzen kann. (Floskeln, Phrasen und Co machen tatsächlich etwa 70% unserer Sprache aus! Dieser Wert ist zwar nicht exakt, sondern dient in der Kommunikationsforschung bloß als Vorstellungshilfe – aber es macht schon was deutlich, nicht?)

Ich bewundere euch

Wenn man sich das vor Augen führt, wird eigentlich schnell klar: Aufklärung kann schnell eine sehr unangenehme Farbe annehmen, die schlimmstenfalls dazu beiträgt, dass Interesse verlorengeht, anstatt welches dazuzugewinnen. Denn was passiert, wenn jemand Bewunderung als Ausdruck echten Interesses zeigt und sich danach in einem Tretminenfeld wiederfindet? Was bleibt dann am Ende? Ich glaube: Schlimmstenfalls niemand mehr.

Es ist daher wichtig, Empathie für beide Seiten zu haben – für die Betroffenen, die in einer sehr abstrakten Problemwelt leben, und für diejenigen, die versuchen, Verständnis und Unterstützung zu zeigen, aber manchmal ungewollt Fehler machen.

Und soll ich euch zum Abschluss was verraten? Ich bewundere jeden Einzelnen, mit dem ich in den letzten Jahren über diesen Blog Kontakt aufbauen durfte. Ihr seid so stark, so inspirierend und so mutig! Da kann ich mir echt ein Beispiel nehmen.
Bitte nehmt diese lieb gemeinte, aufrichtige Bewunderung an. Ihr habt sie verdient!