Sich auf eine Therapie einzulassen, ist manchmal wie ein Griff in eine Wundertüte – man weiß nie so genau, was am Ende rauskommt. Allerdings hinkt der Vergleich ein wenig. Denn selbst wenn eine Behandlung etwas Unschönes hervorbringt, entsteht mitunter trotzdem Freude. Der Grund: die Erstverschlimmerung. Fragt sich jetzt nur, was daran gut sein soll?


Erst wird’s schlimmer

In der Welt der alternativen Medizin legen manche Disziplinen besonderes Augenmerk auf die körperliche Manipulation des Muskel-Skelett-Systems, darunter Osteopathie, Chiropraktik, Dorntherapie und weitere. Ein häufig diskutiertes Phänomen in diesem Zusammenhang ist die sogenannte Erstverschlimmerung – eine Situation, in der die Symptome eines Patienten unmittelbar nach einer Behandlung vorübergehend intensiver werden. Anwender der oben genannten Disziplinen argumentieren, dass eine Erstverschlimmerung ein positives Zeichen dafür sei, dass der Körper auf die Behandlung reagiert und der Heilungsprozess in Gang gesetzt würde. Aber stimmt das wirklich?

Das Gute daran

Es mag seltsam klingen, doch wenn zu Beginn einer Therapie der Hinweis fällt, dass sich unmittelbar nach der Behandlung eine Verschlimmerung der Symptome einstellen kann, hat das für viele etwas Tröstliches. Dies liegt nicht nur an der Überzeugung, dass der Körper auf diese Weise aktiv mit den Therapiereizen umgeht und Heilungsprozesse in Gang setzt – ein Leid, das ausnahmsweise einmal nützlich ist. Ausschlaggebend ist ebenso, denke ich, das Gefühl, auf diese Eventualität vorbereitet zu sein. Vielen kranken Menschen erscheint dies vermutlich wie die Rückkehr der seit Langem aus den Augen verlorenen Orientierung, die dem Leben eine Richtung verleiht und Kontrolle bietet.
Denn Butter bei die Fische: Einen solchen Grad an Verlässlichkeit erlebt man als chronisch Kranker schließlich nicht alle Tage! Kein Wunder also, dass die Erstverschlimmerung oft als Bestätigung verstanden wird, dass der Körper wider Erwarten noch ansprechbar ist. Sie wird als Herausforderung gesehen, die man gemeinsam mit eben diesem Körper meistern will, und wird letztlich sogar willkommen geheißen.

Nun gut, genug philosophiert. Bestimmt ist es nicht verkehrt, mal nachzuschauen, wann vom Konzept der Erstverschlimmerung eigentlich zum ersten Mal die Rede war.

Die Ursprünge

Ob ich euch im Folgenden tatsächlich das erste historische Kettenglied der Erstverschlimmerung präsentiere oder einige danach, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber letztlich ist das auch gar nicht so entscheidend.
Samuel Hahnemann (1755-1843) war ein deutsche Arzt und der Begründer der Homöopathie. Ihm ist das berühmte Prinzip „Similia Similibus Curentur“ (Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden) zuzuordnen. In Bezug auf die Erstverschlimmerung schrieb Hahnemann, dass nach der Verabreichung eines homöopathischen Mittels eine vorübergehende Verschlimmerung der Krankheitssymptome auftreten kann. Er interpretierte dies als ein positives Zeichen, dass das gewählte Mittel korrekt sei und der Heilungsprozess in Gang gesetzt wurde. Diese anfängliche Verschlimmerung sah er als eine notwendige Phase an, in der die „Lebenskraft“ des Körpers aktiv gegen die Krankheit kämpft, indem sie die Symptome zunächst verstärkt, um sie anschließend effektiver zu überwinden.

Wenn die Lebenskraft aktiv wird, können Beschwerden kurzfristig schlimmer werden. (Bild: Cdd20- pixabay. com)

Darüber hinaus wird in der Naturheilkunde, speziell in der als „Naturheilkundeschule“ bekannten Richtung, eine Unterscheidung zwischen „Krankheitskrisen“ und „Heilkrisen“ getroffen. Eine Heilkrise gilt als ein positiver Wendepunkt, bei dem eine Verschlechterung der Symptome nicht als Zeichen der Verschlimmerung der Krankheit, sondern als Teil des natürlichen Heilungsprozesses und der Reinigung des Körpers angesehen wird. Im Gegensatz dazu wird eine Krankheitskrise oft als ein kritischer Punkt in der Entwicklung einer Krankheit betrachtet, der eine Verschlechterung des Zustands signalisieren kann.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, doch ich rätsle gerade: Wie genau lassen sich denn Heilkrisen von Krankheitskrisen unterscheiden?

Es mangelt an Kriterien

Auch die Forschung tut sich ein wenig schwer mit dem Konzept der Erstverschlimmerung – aus eben aufgeführten Grund: In den verschiedenen Fachgebieten mangelt es an robusten Kriterien, die trennscharf zwischen einer potenziell positiven Erstverschlimmerung und unerwünschten Nebenwirkungen unterscheiden können – und das obwohl die Erstverschlimmerung innerhalb der medizinischen Praxis ein durchaus beachtetes Phänomen abgibt.

Ein Beispiel dafür ist die Jarisch-Herxheimer-Reaktion, bekannt aus der Antibiotikatherapie bei Neurosyphilis und andern Infektionen. Sie wird als eine überschießende Immunreaktion beschrieben, die auftritt, wenn der Organismus mit der schnellen Ausscheidung der durch die Behandlung freigesetzten Toxine überfordert ist. Diese Reaktion wird oft als Beweis dafür angeführt, dass der Körper auf die Behandlung reagiert und aktiv versucht, die Krankheitserreger und deren Toxine zu eliminieren.

Und generelle Kriterien, die immer zutreffen, nicht nur bei speziellen Interventionen? Gibt es die auch?

Irgendwie dürftig

Stub und Kollegen (2012) haben mal versucht, welche herauszuarbeiten, jedoch – Überraschung? – für Homöopathie. Die Studie bediente sich eines qualitativen Ansatzes in Form von 22 Fokusgruppeninterviews mit elf Homöopathen aus Oslo, deren Erfahrungsspektrum zwischen zehn und 32 Jahren lag.

Hier mal ein Auszug aus der Studie:

„Die Homöopathen fanden es anfangs schwierig, einige Kriterien zu finden, aber während des Interviews begannen sie tiefer über ihre Entscheidungsfindung bezüglich ihrer Patienten und darüber, wann sie die Behandlung stoppen oder fortsetzen sollten, nachzudenken. Einer von ihnen äußerte: ‚Die gesamte Situation muss berücksichtigt werden. Ist sie gesund oder nicht? Wenn die Situation gesund ist, entscheide ich mich für die Fortsetzung.‘ Ein anderer erklärte: ‚Wenn die Verschlimmerung schlimmer ist als das anfängliche Symptomniveau der Person, gibt es Grund zur Besorgnis. Dann liegt eine unerwünschte Arzneimittelwirkung vor. Dies ist keine heilende Reaktion, und dann benötigt der Organismus Hilfe, um einen besseren Zustand zu erreichen. Positive Anzeichen, dass dieser Prozess begonnen hat, sollten sichtbar sein. Wenn nicht, wurden die Symptome nur verlagert.'“

Hmpf… Also ich find’s irgendwie dürftig. Nicht dass ich etwas gegen Homöopathie hätte, doch die Sache mit der Erstverschlimmerung erscheint mir doch ziemlich fadenscheinig. Vielleicht verhält es sich anders, wenn ich den Blick auf Wesentlicheres werfe. Also: Wie sieht’s bei manuellen Therapien aus?

Die Erstverschlimmerung bei manuellen Therapieformen

Nur um es mal erwähnt zu haben: Das Thema Erstverschlimmerung im Zusammenhang mit manuellen Therapieformen ist nicht so leicht abzuhandeln. Denn wenn ich mich der Frage widme, ob die Erstverschlimmerung in diesem Kontext tatsächlich bedenkenlos positiv zu werten ist, muss ich mir jede mögliche Reaktion ansehen und zugleich gute Gründe finden, weshalb diese nicht als potentieller Indikator einer Komplikation zu bewerten ist. Gar nicht so einfach, immerhin gibt es mittlerweile zahlreiche Berichte über manuelle Eingriffe, die mehr Schaden als Nutzen angerichtet zu haben scheinen (e.g. Ernst, 2007; Stevinson et al., 2001).

Manuelle Eingriffe an der Wirbelsäule verursachen manchmal Beschwerden. (Bild: CDD20 – pixabay.com)

Diese negativen Auswirkungen umfassen ein breites Spektrum an Phänomenen, begonnen bei zerebrovaskulären Ereignissen, Bandscheibenvorfällen, Myelopathien, Rippenbrüchen bis hin zu Patientenberichten über vorübergehende Kopfschmerzen, Steifheit, Schmerzen, Depressionen, ausstrahlende Schmerzen, Schwitzen und weitere. Gemäß der international akzeptierten klinischen Studienterminologie wird all dies durch eine festgelegte Bezeichnung umspannt: „unerwünschte Ereignisse“.

Eigentlich ganz putzig, oder? Daran sieht man mal wieder, dass in der Wissenschaft eine niveauvolle Sprache einen größeren Stellenwert besitzt, als die Dinge einfach beim Namen zu nennen. Ich finde, „Schlamassel“ oder „Mistkacke“ viel tauglicher als „unerwünschte Ereignisse“ – insbesondere weil es den besonders schlimmeren Ereignissen eine entsprechende Bedeutung verleiht. Andererseits: Wer nach einer Wirbelsäulenmanipulation mit gebrochenen Rippen nach Hause geht, weiß vermutlich selbst, dass er in keinem Schlamassel mehr steckt sondern in…, ihr wisst schon, …einer Krankheitskrise natürlich!

Spannend übrigens: Studien zeigen, dass leichte, vorübergehende Nebenwirkungen (z.B. lokales Unbehagen) von ungefähr jedem zweiten Patienten erlebt werden, der eine Wirbelsäulenmanipulation erhält (e.g. Ernst, 2001). Scheint also irgendwie dazuzugehören und könnte bedeutend für unsere Fragestellung sein.

Keiner kennt den Grund

Vielleicht käme ich der Beantwortung meiner Ausgangsfrage näher, würde ich mich dieser von zwei Seiten nähern und mir anstelle der unerwünschten Effekte einer manuellen Behandlung diejenigen ansehen, die man sich wünscht. Schließlich lässt sich nicht abstreiten, dass sich viele Menschen nach solchen Manövern besser fühlen.

Manche Forschungen deuten darauf hin, dass diese Verbesserungen nicht nur mit körperlichen Veränderungen zusammenhängen, sondern auch mit dem, was in unserem Nervensystem passiert – also wie unser Gehirn und unsere Nerven mit dem Rest des Körpers kommunizieren. Studien haben gezeigt, dass sich nach einer Wirbelsäulenmanipulation die Aktivität des Gehirns verändert und neuronale Funktionen zunehmen (e.g. Yang et al., 2022). Wie genau diese neuronalen Veränderungen und andere in Frage kommende Mechanismen zu den positiven Effekten beitragen, die Patienten erfahren, und inwiefern sie überhaupt eine Rolle spielen, ist jedoch weitgehend unerforscht. (Pickar, 2002).

Na toll. Wir wissen also, da passiert irgendetwas, worüber wir nichts wissen, was eventuell durch äußere Impulse ausgelöst wird, die wir nicht mit Sicherheit dafür verantwortlich machen können. Klingt für mich wie eine gelungene Wahlkampfrede.

Wollt ihr wissen, was all diese Unerforschtheit meiner Meinung nach bedeutet? Es bedeutet, dass ich euch die genaue Grenze zwischen Heilkrise und Krankheitskrise nicht erklären kann und schon gar nicht, ob eine Heilkrise/Erstverschlimmerung tatsächlich den positiven Verlauf einer manuellen Therapie anzeigt. Und das wiederum heißt, wir müssen, wie so oft, unseren gesunden Menschenverstand befragen.

Mein Kompass

Eigentlich passt mir das ganz gut. Denn so richtig wissenschaftlich ist dieser Blog ja nicht, wie ihr wisst. Meine persönliche Orientierung, mein Bauchgefühl – also jenes Programm in mir, das mir hilft, in dieser Welt zurechtzukommen -, wird von mir im Zweifel immer bevorzugt. Vermutlich hat sich Gott angesichts der Schwebe, in die sich Wissenschaften immer wieder hineinmanövrieren, einiges dabei gedacht, uns mit so tollen inneren Kompassen auszustatten. Meine Meinung zu anfänglichen Verschlechterungen im Zusammenhang mit manueller Therapie lautet also wie folgt:

Erstverschlimmerungen können mir gestohlen bleiben. Mich interessieren nur Erstverbesserungen.

Was sagt euer Kompass? (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Im Hintergrund

Meiner Erfahrung nach – und ich bitte euch, es genauso zu verstehen – sind unangenehme Reaktionen nach manuellen Therapien kein Zeichen für Heilung. Vielleicht würde ich anders darüber denken, wäre der menschliche Körper ein teilnahmsloser Haufen Fleisch, der jegliche Bedrohung einfach solange hinnimmt, bis irgendein Anreiz ihn dazu treibt, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Von 0 auf 100 – das könnte schon mal Staub aufwirbeln und unangenehm werden, kurz bevor die Sonne wieder scheint. Doch so ist es nicht.

Der menschliche Körper ist nicht teilnahmslos, sondern ununterbrochen damit beschäftigt, sich instandzuhalten. Hier einige Prozesse, die stets und ständig im Hintergrund ablaufen:

  • Zellregeneration
  • Wundheilung
  • Knochenreparatur und -anpassung
  • Leberregeneration
  • Erneuerung des Magen-Darm-Trakts
  • Immunantwort
  • Nervenreparatur
  • Muskelwachstum und -reparatur
  • Gelenkerhaltung- und Reparatur
  • propriozeptive Verbesserung

Jeder dieser Mechanismen unterliegt einer speziellen Ordnung, abgestimmt auf vorherrschende Missstände, verfügbare Ressourcen und die Dringlichkeit. Ein ziemliches biochemisches Kuddelmuddel, das aber von außen nur sehr schwer zu durchdringen ist.

Gut gemeint ist nicht immer gut

Und nun stellt euch vor, was passiert, wenn ein Therapeut in dieses Kuddelmuddel eingreift – mit guter Absicht zwar, doch trotzdem blind für die Pläne eures Körpers. Oder stellt euch ein Eichhörnchen vor, das in einem Zoo lebt und emsig Bucheckern und Eicheln für den Winter sammelt und im Boden versteckt. Und immer wieder kommt so ein Pfleger zum Ausmisten und schüttet sämtliche Vorräte in dem Abfall, sodass das Eichhörnchen wieder von vorn beginnen muss – schließlich weiß es nicht, dass es im Zoo lebt und eine ruhige Kugel schieben darf. Das ist frustrierend für’s Eichhörnchen!

Einem Körper, der mühevoll damit begonnen hat, sein Selbstheilungsprogramm abzuspulen, während er jede noch kleine Erschütterung im Blick behält und entsprechend reagiert, geht’s mitunter genauso, wenn so ein Therapeut alles durcheinanderbringt. Bestes Beispiel für uns Wackelhälse sind die berühmten Blockaden, also der Todfeind der meisten Manualtherapeuten. Doch diese haben einen Zweck. Sie stabilisieren den Körper! Werden sie einfach aufgelöst, gibt’s vom Körper Zunder. Und die Therapeuten freuen sich und nennen es Erstverschlimmerungen. Doch ist das wirklich etwas Positives? Ich denke eher, unser Körper sagt uns damit: „Hört auf, mich ständig zu behindern!“

Denkt darüber nach

Nicht vergessen: Das ist meine Interpretation. Doch etwas Wahres ist dran, denke ich. Heilung geschieht nicht von jetzt auf gleich. Es braucht dafür Übersicht, die nur unser Körper besitzt. Es braucht Geduld, denn manchmal ist es besser, wenn Dinge langsam vonstatten gehen. Und es braucht Vertrauen, auch wenn echte Heilung sich nicht so gut anfühlt wie eine schnelle Justierung.

Denkt darüber nach und zieht bitte ganz individuelle Schlüsse. Alles Liebe für euch!


Ernst E. (2001). Prospective investigations into the safety of spinal manipulation. Journal of pain and symptom management21(3), 238–242. https://doi.org/10.1016/s0885-3924(00)00262-1

Ernst E. (2007). Adverse effects of spinal manipulation: a systematic review. Journal of the Royal Society of Medicine100(7), 330–338. https://doi.org/10.1177/014107680710000716

Gyer, G., et al. (2019). Spinal manipulation therapy: Is it all about the brain? A current review of the neurophysiological effects of manipulation. Journal of integrative medicine17(5), 328–337. https://doi.org/10.1016/j.joim.2019.05.004

Pickar J. G. (2002). Neurophysiological effects of spinal manipulation. The spine journal : official journal of the North American Spine Society2(5), 357–371. https://doi.org/10.1016/s1529-9430(02)00400-x

Stevinson, C. et al. (2001). Neurological complications of cervical spine manipulation. Journal of the Royal Society of Medicine94(3), 107–110. https://doi.org/10.1177/014107680109400302

Yang, Y. C. et al. (2022). The Changes of Brain Function After Spinal Manipulation Therapy in Patients with Chronic Low Back Pain: A Rest BOLD fMRI Study. Neuropsychiatric disease and treatment18, 187–199. https://doi.org/10.2147/NDT.S339762