Wer mit Rückenleiden zum Arzt geht, weiß oft schon im Vorfeld, was er dort bekommt. Denn oftmals erschöpfen sich die Lösungsangebote in der Verschreibung von Rückenkursen oder dem Geheimtipp schlechthin: Yoga und Pilates. Zweifellos genießen beide Methoden eine große Beliebtheit. Doch sollten vor allem Wackelhälse nicht lieber Vorsicht walten lassen?
Körper und Geist
Viele Mediziner und Therapeuten sind froh, ihren Patienten Übungen aus dem überall beliebten Yoga- und Pilatesuniversum mitzugeben. Beide Praktiken bieten zahlreiche positive Aspekte für Körper und Geist, und werden deshalb sogar von den Krankenkassen bezuschusst.
Yoga, eine jahrtausendealte Praxis, fördert die Flexibilität, Stärke und geistige Klarheit durch eine Kombination aus Körperhaltungen, Atemübungen und Meditation. Es hilft, Stress zu reduzieren, fördert die Entspannung und verbessert die Konzentration.
Pilates, das auf die Stärkung der Körpermitte fokussiert, verbessert die Haltung, Muskelkontrolle und Balance. Durch die Betonung von präzisen Bewegungen und bewusster Atmung unterstützt Pilates ein effizientes und harmonisches Zusammenspiel des Körpers.
Heißt: Pilates fokussiert auf Kernstärkung und Körperkontrolle, oft mit Geräten – ist also eher körperzentriert. Yoga hingegen betont Flexibilität, Balance und die Verbindung von Körper und Geist, meist durch Bodenübungen – hat also auch eine spirituelle Komponente. Beide Methoden bieten einen integrativen Ansatz zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens, verbessern die körperliche Fitness und tragen zu einem positiven Selbstbild bei.
Doch jetzt kommt das große Aber…
Dr. McGill
Habt ihr schon mal von Dr. Stuart McGill gehört? Er ist ein international anerkannter Experte und Forscher auf dem Gebiet der Wirbelsäulenbiomechanik. 32 Jahre war er Professor an der University of Waterloo in Kanada, wo er das Spine Biomechanics Laboratory leitete. Dr. McGills Forschungsbemühungen umfassten vor allem Themen wie Rückenschmerzen, Rehabilitation und Prävention von Rückenverletzungen – zwar eher bezogen auf den unteren Rücken, aber sei’s drum.
Er hat mehrere einflussreiche Bücher geschrieben, darunter „Back Mechanic“ (deutscher Titel: „Rückenreparatur“), in dem er Laien einen evidenzbasierten Leitfaden zur Selbstbehandlung von Rückenschmerzen bietet, sowie „Ultimate Back Fitness and Performance„, das sich auf die Optimierung der Rückengesundheit und Leistungsfähigkeit für Athleten konzentriert. Seine Forschung trug wesentlich zum Verständnis der Mechanismen hinter Rückenschmerzen bei und zeigte neue Methoden für deren Prävention und Behandlung auf.
Und ihr ahnt es sicherlich schon: McGill hat eine Meinung zu Yoga und Pilates.
Rückenleiden ist nicht gleich Rückenleiden
Dr. Stuart McGills zentrale Botschaft in seiner Forschung und Lehre betont die Individualität von Rückenbeschwerden und warnt vor einer pauschalen Behandlungsweise. Er argumentiert, dass Rückenschmerzen eine hochpersönliche Erfahrung darstellen, deren Ursachen und Auswirkungen von Person zu Person variieren. Daher plädiert er gegen die gängige Praxis, universelle Lösungen wie Yoga und Pilates allen Betroffenen gleichermaßen zu empfehlen – insbesondere da beide Übungssysteme Elemente beinhalten, die bei Menschen mit Rückenbeschwerden zu einer Verschlimmerung führen können.
Kritik an Yoga
Die Warnungen von McGill vor den versteckten Risiken des Yoga, insbesondere für Individuen mit Vorgeschichten von Rückenbeschwerden, werfen ein neues Licht auf die Praxis, die über ihre Wurzeln als gesundheitsfördernde Disziplin hinausgewachsen ist und sich in Teilen als Lifestyle-Symbol etabliert hat. Zahlreiche Yoga-Posen, einschließlich intensiver Beugungen, Dehnungen und Drehungen der Wirbelsäule, finden heutzutage oft aus fehlgeleiteten Gründen Anwendung, ohne dass dabei die notwendige muskuläre Stärke und Stabilität gegeben ist. Diese Praxis kann das Verletzungsrisiko signifikant erhöhen, was Anwendern stets bewusst sein sollte.
Für mehr Achtsamkeit im Umgang mit Yoga plädiert auch Jenni Rawlings, Yoga-Lehrerin mit großer Leidenschaft für Anatomie und Physiologie. Sie macht deutlich, dass die allgemeinen Annahme, dass Yoga eine ausgleichende Wirkung auf den Körper hat, bei genauem Hinsehen nicht ganz zutrifft. Durch eine der Yoga-Praxis inhärente Fokussierung auf Schulterdrückbewegungen, während Schulterziehbewegungen weitgehend fehlen, wird laut Rawlings langfristig ein körperliches Ungleichgewicht verursacht, was in der Konsequenz Schäden und Verletzungen bewirken kann.
Hier könnt ihr Teil 1 und Teil 2 ihrer Beiträge zu diesem Thema lesen. Und hier ein großes Statement in Reaktion auf alle Yogis, die Rawlings Meinung nicht teilten.
So oder so, bei den folgenden drei Übungen sollten hypermobile Menschen, darunter auch Wackelhälse, definitiv besondere Vorsicht walten lassen:
Herabschauender Hund (Adho Mukha Svanasana)
Kobra-Pose (Bhujangasana)
Triangle Pose (Trikonasana)
Kritik an Pilates
McGills Hauptkritikpunkt an Pilates ist die Betonung, die Wirbelsäule abzuflachen und den unteren Rücken beim Liegen auf den Boden zu pressen. Diese bewusste Modifikation der natürlichen Wirbelsäulenposition, um sie zu „begradigen“, sei gesundheitlich bedenklich und kann bei bereits sensibilisierten Personen Schmerzen auslösen. Selbst eine vorübergehende Linderung, durch das Anschalten der Dehnungsrezeptoren im Rücken, sei ein missverständliches Signal, das zu Wiederholungen verleitet. „Jedoch führen die auf die Bandscheiben ausgeübten Belastungen häufig zu einer verstärkten Rückkehr der Beschwerden“, betont McGill.
Auch das „Rollup“ bei Pilates, eine Art Sit-up, bei dem die Wirbelsäule schrittweise abgerollt wird, birgt Risiken. McGills Forschung hebt hervor, dass wiederholte oder übermäßige Flexion der Wirbelsäule – ein Schlüsselaspekt des Rollups, bei dem die Person sich vom Boden aus Wirbel für Wirbel aufrollt – das Risiko von Bandscheibenschäden erhöhen kann. Zudem können solche Bewegungen, besonders unter Belastung, zu Mikrotraumata der Bandscheiben führen, was langfristig deren Degeneration beschleunigen und Instabilitäten verursachen oder verschlimmern kann.
Besonders im zweiten Beispiel wird ein unterschätzter Aspekt deutlich: Pilates soll eigentlich dazu beitragen, den Körper zu stärken. Einige Übungen zielen jedoch auf etwas vollkommen anderes ab, nämlich Beweglichkeit. Die Frage, die sich die wenigsten stellen: Kann man wirklich beides haben?
Die EZM
Bevor es weitergeht, stelle ich euch mal ein ganz tolles unserer Bauteile vor: die Extrazellulärmatrix (EZM). Seid bitte wohlwollend und höflich zu ihr, denn glaubt mir: Ohne sie müsstet ihr euch in kleinen Stückchen fortbewegen.
Die EZM ist eine komplexe Netzwerkstruktur, die Zellen in Geweben umgibt und stützt. Sie besteht aus Wasser, Proteinen (wie Kollagen und Elastin) und Polysacchariden, die zusammen eine strukturierte Umgebung bilden, welche nicht nur mechanische Unterstützung für Zellen bietet, sondern auch eine entscheidende Rolle bei der Regulation von Zellfunktionen wie Wachstum, Differenzierung und Reparatur spielt.
Die EZM findet sich in allen Geweben und Organen und variiert in ihrer Zusammensetzung und Dichte je nach Standort und Funktion. In der Haut sorgt sie beispielsweise für Elastizität und Festigkeit, in Blutgefäßen ermöglicht sie Flexibilität und Widerstandsfähigkeit, Knorpeln verleiht sie Druckfestigkeit, und Gelenken, Bändern und anderen muskuloskelettalen Bausteinen gibt sie ihre Festigkeit.
Und nun kommt’s! Die EZM ist eine dynamische Struktur! Das heißt, sie kann sich an die mechanischen und biochemischen Anforderungen des Körpergewebes anpassen! Was sie allerdings nicht kann: Sie kann nicht zwei Zustände gleichzeitig annehmen.
Wie es wirkt
Werfen wir doch mal einen Blick auf zwei unterschiedliche Fassetten einer täglichen Trainingseinheit, zusammengewürfelt aus Pilates- und Yogaelementen. Darin enthalten ist ein bisschen was zur Kräftigung und ein bisschen was, um die Beweglichkeit zu fördern. Schauen wir doch mal, wie sich das auf die EZM auswirkt:
Beweglichkeitstraining zielt darauf ab, die Flexibilität und den Bewegungsumfang der Gelenke zu erhöhen. Dies geschieht durch Dehnungsübungen, die darauf abzielen, die Länge der Muskeln und die Plastizität der EZM zu vergrößern. Langfristig kann intensives Dehnen zu Veränderungen in der EZM führen, indem es die Bindungen zwischen den Kollagenfasern lockert. Dies kann die Matrix weicher machen und somit ihre Fähigkeit, Lasten zu tragen, verringern. Die Veränderung in der Konsistenz der Matrix kann zu einer erhöhten Beweglichkeit führen, aber auf Kosten der strukturellen Integrität und Belastbarkeit des Gewebes.
Krafttraining, auf der anderen Seite, erhöht die mechanische Belastung auf Muskeln und Bindegewebe, was zu einer Verdichtung und Stärkung der EZM führt. Diese Anpassungen umfassen die Zunahme der Quervernetzung der Kollagenfasern, was die Matrix dichter und widerstandsfähiger gegen mechanische Belastungen macht. Diese Prozesse verbessern die Fähigkeit des Gewebes, Kräfte zu absorbieren und zu übertragen, was für die strukturelle Unterstützung und die Vermeidung von Verletzungen wichtig ist. Allerdings kann diese Verdichtung auch zu einer Verringerung des Bewegungsumfangs führen, da das Gewebe weniger dehnbar wird.
Man muss wählen
Die spezifische Anpassungsfähigkeit der EZM bedeutet McGill zufolge nun, dass es eine Art von Trade-off oder Kompromiss zwischen Beweglichkeit und Kraft gibt. Wird Beweglichkeit priorisierst, kann dies zu einer Verringerung der strukturellen Unterstützung führen. Priorisiert man Kraft, geht dies auf Kosten der Beweglichkeit, was die Fähigkeit, bestimmte Positionen einzunehmen, einschränken könnte. McGill gibt zu Bedenken, dass nur wenige Menschen beides haben können. Soll natürlich heißen: nicht beides in gleichmäßiger Ausprägung.
Das bedeutet für Positionen wie die Radpose, das Kamel und die Bogenpose – alles Yoga-Haltungen, die erfordern, dass die Wirbelsäule unter der Last des Körpers gestreckt wird -, dass Leistungssteigerung und Gesundheit aufeinanderprallen. Für eifrige Yogis ist das womöglich eine Schwierigkeit.
Für uns Wackelhälse hingegen entsteht kein Dilemma. Beweglichkeit haben wir zu viel, also brauchen wir sowieso nur eines: mehr Kraft. Eigentlich schön, wenn es so simpel ist, oder?
Doch McGill meint:
„Therapeuten beginnen oft früh […] mit dem Krafttraining, einfach weil Kraft das Attribut ist, das sich am einfachsten steigern lässt und nur sehr wenig Fachkenntnis erfordert. […] Zu viele Patienten bleiben langfristig Patienten wegen ihrer fehlgeleiteten Bemühungen, ihre Rückenkraft zu trainieren. In vielen Fällen muss ihr Trainingsansatz komplett überarbeitet werden. Denken Sie an Kraft in Bezug auf den Körper wie an Pferdestärken in Bezug auf ein Auto. Wenn ein aufgemotzter Motor mit 500 Pferdestärken in ein klappriges, heruntergekommenes Auto eingebaut und dann mit Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt gefahren wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Mega-Motor das fragile Gestell und die Aufhängung in Stücke reißt.“
Alles klar. Das Training sollte immer dem Zustand der Karosserie entsprechen. Wie gut, dass ich nicht trainiere… – Spaß beiseite.
Stabilität durch Steifigkeit
Wer von euch via Krafttraining Stabilität erreichen möchte, braucht vor allem ein Verständnis für die Beziehung zwischen Kraft und Steifigkeit, so McGill (2015).
- Steifigkeit bezieht sich darauf, wie fest oder starr ein Muskel ist. Wenn ein Muskel steifer wird, kann er Gelenke und Strukturen des Körpers besser stabilisieren. Diese Steifigkeit wirkt stabilisierend, weil sie Bewegungen begrenzt und so Schutz bietet.
- Kraft hingegen ist die Fähigkeit des Muskels, sich zu kontrahieren und Bewegung oder Widerstand zu erzeugen. Kraft kann sowohl stabilisieren als auch destabilisieren, je nachdem, wie sie angewendet wird. Wenn Kraft zu schnell oder unkontrolliert zunimmt, kann sie die Stabilität gefährden, indem sie zum Beispiel ein Gelenk in eine Position zwingt, die es nicht halten kann.
- Die Beziehung zwischen Steifigkeit und Kraft ist nicht-linear, was bedeutet, dass sie sich nicht in einem einfachen, geradlinigen Verhältnis zueinander verändern. Zu Beginn der Muskelaktivierung steigt die Steifigkeit schnell an, was hilfreich ist. Aber nach einem gewissen Punkt führt eine weitere Erhöhung der Kraft nicht zu viel mehr Steifigkeit. Wenn die Kraft ohne eine entsprechende Zunahme der Steifigkeit weiter ansteigt, kann dies die Stabilität untergraben.
Das Beste für die körperliche Stabilität ist es also, die Steifigkeit in allen beteiligten Muskeln auszugleichen. Dies ist vergleichbar mit der gleichmäßigen Verwendung von Abspannseilen, um eine Struktur zu stabilisieren. Indem man sicherstellt, dass alle Muskeln angemessen mitarbeiten, ohne dass ein einzelner oder eine bestimmte Muskelgruppe übermäßig beansprucht wird, kann man eine ausgewogene und stabile Körperhaltung oder Bewegung erreichen. Dies betont die Wichtigkeit der Koordination und des Gleichgewichts über das gesamte Muskelsystem, anstatt sich auf einen Hotspot zu konzentrieren.
Am besten wie gehabt
Stuart McGill ist kein Experte für die Behandlung instabiler Kopfgelenke. Aus seiner Arbeit lassen sich dennoch wertvolle Tipps für alle Yoga- und Pilatesfans unter euch ableiten, meine ich. Zum Beispiel:
- Vorsicht bei Extrembewegungen: McGill betont oft die Bedeutung, extreme Bewegungen zu vermeiden, besonders bei bereits bestehenden Beschwerden. Übertragen auf Personen mit instabilen Kopfgelenken hieße dies, Übungen zu meiden, die eine extreme Flexion, Extension oder Rotation des Nackens erfordern.
- Fokus auf Stabilität: Für Menschen mit instabilen Kopfgelenken könnte McGill empfehlen, an der Stärkung der Muskeln zu arbeiten, die zur Stabilität der Kopf- und Nackenregion beitragen. Jedoch nicht gemäß des Mottos: „Viel hilft viel“ – denn dadurch riskiert man schlimmstenfalls eine Zunahme der Instabilität. Koordination lautet hier das Schlüsselwort.
- Auf den Körper hören: Schließlich würde McGill betonen, auf die Signale des eigenen Körpers zu hören und bei Schmerzen oder Unbehagen jede Aktivität sofort zu stoppen.
Für Wackelhälse, denke ich, ist der Aufruf für eine bewusstere Herangehensweise an Yoga und Pilates, bei der Sicherheit und persönliche Grenzen mehr Beachtung finden sollten, sehr sinnvoll. Dabei sollte auch bedacht werden: Yoga ist nicht gleich Yoga und Pilates ist nicht gleich Pilates. Von Hatha Yoga über Yin Yoga bis zu Power Yoga stehen ganz unterschiedliche Schwerpunkte im Vordergrund. (Wer’s genauer wissen möchte, guckt mal hier.) Und auch Pilates lässt sich breit auffächern.
Entscheidend ist, dass Menschen mit extremer Flexibilität ihre spezifischen Bedürfnisse und Grenzen im Training stets beachten und idealerweise professionelle Unterstützung suchen sollten.
Also, wie es aussieht, alles wie gehabt.
Na dann: Viel Spaß!
McGill, S. (2015). Low Back Pain. Human Kinetics.
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Nina
Hi Christin,
der Beitrag über Yoga hat mich nachdenklich gemacht – auch bezüglich Alltagssituationen.
Deswegen vielleicht an dich und auch andere langhaarigen Wackelhälse: Wie haltet ihrs mit Haare über Kopf föhnen, bürsten und waschen (über der Wanne) ? Sind das nicht ähnliche Belastungen wie bei einer Vorwärtsbeuge o. ä
Den Friseurbesuch spar ich mir ja
schon lange…. Aber irgendwas
muss man ja mit dem Kraut machen 🙂
Vielleicht hat ja jemand Tipps