Liebe Leserinnen und Leser, ich möchte, wie schon so oft, ein großes Danke an euch loswerden – für eure Treue, insbesondere während meiner unbeständigen Phasen, euer Lob, eure wertvollen Hinweise und euer großes Vertrauen, wenn ihr mir eure Herzen ausschüttet. Als Zeichen meines Vertrauens und meiner Wertschätzung möchte auch ich einige persönliche Dinge mit euch teilen, darunter auch einige Nackenschläge. Quid pro quo – oder so.


Schwere Kindheit?

Heute gibt’s ein besonderes Schmankerl für euch, nämlich einen Blick in mein Vorher. Lasst euch von dieser Zwischenüberschrift aber nicht abschrecken, ich bediene damit lediglich die hartnäckige Gewohnheit, reflexhaft zurückzublicken und nach Unebenheiten Ausschau zu halten, sobald sich in der Gegenwart Schwierigkeiten auftun. Nicht, dass ich generell etwas dagegen habe, Vergangenes zu betrachten, auch nicht, wenn es sich um Tiefpunkte handelt. …Obwohl eine gewisse Abneigung ja durchaus nachvollziehbar ist, besonders wenn man bedenkt, dass das Reisen in die Vergangenheit manchmal einer seelischen Wurzelbehandlung gleichkommt. …Aua.

Aber ich gehöre mittlerweile einfach zur Kategorie „Haken dran und weiter“, weil alles andere für mich zu nichts führt. Nicht falsch verstehen: Ich kann sehr wohl über Vergangenes sprechen. Nur wird es dadurch nicht wieder „lebendig“ oder erlangt mehr Bedeutung, als nützlich wäre. Für mich fühlt sich die Vergangenheit eher an wie eine Inventarliste, die ich lieblos wiederkäuen kann, wie eine Kuh ihr dutzendmal verschlungenes, längst zur Unkenntlichkeit zerkautes Gras. Stellt euch mal so eine Kuh vor und wie sie nach einer Weile, in der sie auf einer Wiese stand und fraß, darauf aufmerksam wird, dass sie versehentlich lauter hübsche Blumen vertilgt hat. Das Zurückversetzen ändert daran nichts; die Kuh wird sich, wenn sie außergewöhnlich aufgeweckt ist, höchstens der Tatsache bewusst, dass sie einen Anteil daran trägt, dass ihre Umgebung nun etwas farbloser ist. Das wiederum ist natürlich nicht verkehrt, sollte die Kuh aus Liebe zu unzerkauten Blumen darauf erpicht sein, in Zukunft etwas achtsamer ins Gras zu beißen. Solch eine Kuh würde es weit bringen. Eine Kuh hingegen, die in Selbstvorwürfen oder alten Sehnsüchten versinkt, sollte man besser zum Schlachter schaffen.

Aus der Vergangenheit lernen, ist gut. Aber mehr braucht es nicht. (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Kratzer im Lack

Laberrhababer, worauf die Kuh… worauf ich hinaus will: Ich erzähle euch sogleich ein bisschen was über mich. Doch ihr müsst keine Aneinanderreihung krampfhaft zusammengesammelter rührseliger Kindheitstraumata befürchten, damit ich mir so vorkomme, euch für eure Offenheit mir gegenüber einen Ausgleich gewährt zu haben. Ein bisschen was ist natürlich dran. Doch der eigentliche Grund dieses Beitrags besteht viel mehr darin, euch ein paar meiner Kratzer im Lack zu präsentieren, sodass ihr seht, dass auch ich nicht über den Dingen stehe, nur weil ich hier im Blog mit lauter Wissensschnipseln um mich schmeiße wie eine selbsternannte Expertin. Ich glaube, die einzige wirkliche Expertise, die ich besitze, ist die, mein Umfeld glauben zu lassen, dass ich Expertisen habe. 😄
Selbstexpertisen sind das höchstens, also so Dinger, die man im Laufe seines Lebens anhäuft und daraus individuelle Schlussfolgerungen zieht. Viele meiner Selbstexpertisen verraten mir zum Beispiel, worin die Ursachen meiner Wackelhalsigkeit liegen könnten – die neben den genetischen und körperlichen, meine ich. Erinnert euch: Selbst Anatomen haben mittlerweile festgestellt, dass sich die Halswirbelsäule im Angesicht unserer Emotionen wie feuchter Lehm verhält. Dem sollte man Rechnung tragen.
Und deshalb dachte ich mir: Wieso nicht einfach einen Schritt vorwärts treten und mal alles rauslassen? Wer weiß, wem von euch es nützen könnte.

Also: Wer etwas mehr über mich erfahren möchte und darüber, wo ich die Wurzeln meiner Wackelhalsigkeit sehe (zumindest ein paar davon), darf ab hier den Popcorn-Eimer bereitstellen – oder besser eine warme Gemüsesuppe, falls es euch zwischendurch eiskalt über den Rücken laufen sollte.

Also pack mers! Auf zur traditionsgemäßen Rückschau, zurück zu den Anfängen, als ich noch ein kleines kurzhaariges Mädchen war. Dabei wollte ich eigentlich nie aussehen wie Junge, höchstens wie ein Junge mit langen Haaren. Blusen und Röcke konnten von mir aus im Schrank bleiben. Aber sei’s drum.

Meine Butter, mein Leben

Meine Kindheit war…, naja…, pragmatisch, würde ich es nennen – weder quietscheentenglücklich noch tragisch. Mehr lässt sich dazu eigentlich nicht sagen. Ich musste nicht frieren, konnte mich immer über einen vollen Kühlschrank freuen, mein Zimmer quoll über vor Spielsachen, die mich vollends überforderten, und ich hatte Freunde, mit denen ich im Kindergarten am liebsten Power Rangers spielte. (Ich war natürlich der schwarze.) Das war schon lustig.
Doch ich kam mir in diesem Umfeld überhaupt nicht vor wie ein Kind, sondern eher wie eine Gestrandete in einer Zeitschleife. Jeder Tag begann mit Frühstück. Tanja machte sich wieder einmal in die Hose. Es folgten Singsang und Turnen. Alle saßen wieder am Tisch und aßen. Toilettengang und jeder schaute dem anderen dabei zu. Mittagsschlaf ohne Notwendigkeit. Starren an die Decke. Langeweile. Die Gespräche der Erzieherinnen im Nebenraum und der anschließende Ärger, weil sich die Müdigkeit, wie stets, nicht erzwingen ließ. Und dann, nachdem ich viel Schimpfe einkassiert hatte, der schwere Gang nach Hause, wo in der Regel niemand war, bis auf ein Geschöpf der Unterwelt, das ich nur unter großem Unbehagen als Oma zu bezeichnen vermag. Aber kochen konnte sie.

Omas Essen war grandios. Oma selbst war eine Zumutung. (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Leckeres Mischgemüse mit Schnitzel konnte jedoch nichts an Omas ausgeprägter Liebe für essenzlose Streitgespräche ändern, zum Beispiel was das richtige Schneiden von Butter betraf – damit die Butter auch stets vorzeigbar war. Vermutlich falls jemand unangekündigt vorbeigekommen wäre, um mit Wasserwaage im Schlepptau die Butter zu inspizieren oder so. Jedenfalls habe ich seither (und sicherlich ist euch klar, dass diese Butter-Affäre stellvertretend für viele andere solcher Reibereien steht) große Schwierigkeiten mit Menschen, die unbedeutende Prinzipien über alles stellen, selbst über den Wert der Einzigartigkeit anderer (und der Art, wie sie Butter schneiden). Oder der Chance, neue Sichtweisen kennenzulernen. Oder Frieden. Deshalb heißt es wohl auch: Meine Butter, mein Leben – oder so ähnlich.

Germanys Next Top Butter. (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Prinzipiell prinzipienlos

Auf den ersten Blick mag dies als wertvolle Lebenslektion erscheinen. Immerhin birgt das selbstbestimmte Schneiden von Butter einen gewissen fortschrittlichen Charme. Der Bug ist nur – und das sehen wir alle tagtäglich, wenn wir den Fernseher anschalten, Zeitung lesen oder uns unterhalten -, dass Extreme, wie durch ein Naturgesetz vermittelt, stets in die Flucht anderer Extreme münden, von wo aus man leicht die Übersicht verliert. Plötzlich wird man ungewollt zu etwas, wovon man sich eigentlich distanzieren wollte – nur in Grün, wie man so schön sagt.

Die meisten Menschen bleiben zum Glück blind für diese Wirklichkeit und leben selig als spiegelverkehrte Blaupausen abgeschworener Prinzipien (wenn sie ihre Butter zerhackstückeln, anstatt sie sorgsam abzukratzen) – und fügen sich damit einer sehr sinnvollen psychologischen Vorinstallation. Ich hingegen merkte, dass ich durch das Verlassen fragwürdiger Prinzipien selbst zur Prinzipienreiterin geworden war, die nun nicht mehr unterscheiden konnte, ob sie ihre Entscheidungen aus innerer Vernunft und Willen oder aus bloßer Abwehr heraus traf. Eigentlich weiß ich es bis heute nicht.

Was ich allerdings mit Sicherheit sagen kann, ist, dass dieses Dilemma mich zur unentschlossensten Person gemacht hat, die mir in den Sinn kommt. Seit Jahren gleiche ich einem perpetuum mobile, das unaufhörlich seine Kreise zieht, ohne je einen Moment der Stille zu finden. Natürlich vollzieht sich das nicht so zweidimensional wie es klingt. Denn Extreme gibt es zuhauf, sowohl im Oben als auch im Unten, im Links, in Rechts und sogar in der Mitte – wo zwar die größtmögliche Distanz zu allen anderen Extremen, aber zugleich der größte Druck herrscht. Kein Wunder, dass ich mir zuweilen arg zerquetscht vorkomme.

Aber gut, ich schau mal weiter auf das Naheliegende: Eltern. Eltern sind schließlich immer schuld an allem.

Nebeneinander

Meine Eltern waren für mich nicht wie „andere Eltern“, auch aus heutiger Sicht. Allerdings hat das nicht unbedingt etwas schlechtes zu bedeuten. Meine Mutter – Gott weiß, woher auch immer sie die Kraft nahm – arbeitete von früh bis spät, wie eine Maschine, um alles am Laufen zu halten. Somit konnte sie besonders auf zwischenmenschlicher Ebene gerade noch das Nötigste tun, um mich großzuziehen, und verbrachte ansonsten sehr viel Zeit mit ihren dreihunterzwölfzig Zimmerpflanzen sowie der spätabendlichen Fußpflege- und Lockenwickler-Soiree ihres ewigen Sorgenkindes – jenem Geschöpf der Unterwelt, mit dem ich auf Kriegsfuß stand und mit dem ich fortwährend konkurrierte.
Zwischen Mittag und ungefähr drei Uhr am Nachmittag gab es ein Zeitfenster, in dem wir die Chance gehabt hätten, uns mal zu unterhalten, irgendetwas anzustellen oder uns meinetwegen die Hornhaut von den Füßen zu schrubben. Doch meine Mutter war oft viel zu erledigt und legte sich für ein Schläfchen lieber auf die Couch ins Wohnzimmer – wo ich mich wiederum nur selten aufhielt, weil es dort kahl, einfallslos und ungemütlich war.
Es ist nicht so, dass wir die gesamte Zeit nur nebeneinanderherlebten. Ich erinnere mich zum Beispiel an gemeinsame Schwimmbadbesuche oder gemeinsames Shoppen – wenn Geld übrig war. Aber unsere Probleme waren leider größer; die eigenen als auch die, die wir miteinander und mit uns selbst hatten.

Mama arbeitete oder schlief auf der Couch. (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Mein Vater taucht in meinen Kindheitserinnerungen kaum auf, allenfalls in Szenen, in denen er sich unsicher verhielt oder in denen meine Eltern sich stritten. Meinem früh ausgeprägten Bewusstsein ist es wohl zu verdanken, dass ich noch genau weiß, worum es in diesen lauten Auseinandersetzungen ging, zumal ich auch oft versucht habe, auf meine Weise irgendetwas daran zu ändern. Doch meine Eltern waren schlichtweg nicht füreinander geschaffen; meine Oma und mein Vater noch viel weniger. Also kam mein Vater um meine Schuleinführung herum endlich auf die Idee, das Weite zu suchen. Aber das machte keinen Unterschied.
Damals fragte ich mich, weshalb Erwachsene freiwillig jahrelang an unglücklichen Beziehungen festhalten. Oder weshalb sie Beziehungen unglücklich werden lassen. Ich weiß heute, mit Kindern sind die Dinge nicht immer ganz so einfach – obwohl es eigentlich ganz simpel ist: Unglückliche Eltern haben oft unglückliche Kinder. Und abgesehen davon: Lebenszeit ist kurz. Kürzer als man denkt.

Vermutlich kam mein Vater deshalb auf die Idee, im Eiltempo Ringe mit einer Dumpfbacke zu tauschen. Diese hatte bereits zwei Kinder, was meinem Vater wie eine Art Entschädigung für den vergangenen Scherbenhaufen vorgekommen sein muss. Endlich war da die Bilderbuchfamilie, die er sich immer gewünscht hatte – zumindest bis alles baupfuschartig auseinanderbrach. Gut, dass er mittlerweile eine Frau hat, mit der er sich wirklich versteht. Leider hat die Regentschaft der Dumpfbacke einige Schäden hinterlassen, leider auch in unserer Beziehung.

Befremdlich

Inmitten dieser Berg- und Talfahrten schlug ich mich mit dem neuen Partner meiner Mutter herum, einer mit immer neuen ganz tollen Vorhaben, lockeren Sprüchen und einem Hang, gewisse Grenzen zu übertreten. Als bei mir die Metamorphose vom Kind zur Jugendlichen anbrach, schaffte dieser Gernegroß es einfach nicht, seine fetten Finger bei sich zu lassen, behandelte mich wie einen Teller Probierhäppchen an der Wursttheke. Wenn ich daraufhin Distanz suchte, kam von ihm stets ein verständnisloses, regelrecht eingeschnapptes: „Und du willst erwachsen sein…“
Ich erzählte meiner damaligen Psychotherapeutin davon, doch alles, was ihr dazu einfiel, war ein sogenanntes Gespräch, bei dem sie mir meine Mutter und ihren Partner gegenübersetze, um zu demonstrieren, dass ich in dieser Konstellation niemals den Mut aufbringen würde, meinem Stiefvater sexuellen Missbrauch vorzuwerfen. Ihrer Logik folgend wäre dies der stichfeste Beweis gewesen, dass ich mir alles nur ausgedacht habe. Doch ich ließ mich nicht einschüchtern. Stattdessen wandte ich mich an die Lokalpresse, die dank mir endlich mal etwas zu schreiben hatte. Und auch wenn im Interview keine Namen genannt wurden: Daraufhin wusste es die gesamte Nachbarschaft.

Habt ihr euch schon mal wie ein Propierhäppchen gefühlt? (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Wenn solche Dinge berichtet werden, stellen sich bei den meisten Menschen für gewöhnlich Wut, Abscheu und Entsetzen ein und sie wissen sofort, was sie in einer solchen Situation getan hätten. Doch jemandem, der sein Handeln gar nicht erst begreift, mit Widerstand zu begegnen, löst manchmal auch Hemmungen aus.
Verrückt, oder? Diesem Widerling war zu keiner Zeit bewusst, was er tat. Ein Griff zwischen die Beine war in seiner Welt nicht nur unproblematisch, sondern ein großzügiges Kompliment – als ob ich mein Leben lang darauf gewartet hätte. Das alles war so abstrus, dass ich mir selbst regelrecht befremdlich vorkam, sobald ich das Weite suchte.
Befremdlich waren auch die verhaltenen Reaktionen, als ich damit rausrückte. Ich kann allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob das daran lag, dass ich immerhin nicht vergewaltigt wurde, oder weil mir kein Mensch glaubte. Seither kann ich jedenfalls verstehen, weshalb Missbrauchsopfer nicht den Mut finden, sich zu offenbaren. Sie haben einfach keine Lust auf Anklagen und Rechtfertigungen, oder Sprüche, wie „Wenn es so war, wieso kommst du damit erst jetzt?“

Haken dran und heiter weiter, wie gehabt. Tatsächlich bewerte ich diesen Baustein meines Lebens gar nicht mal als den dunkelsten. So richtig dunkle gab es bislang auch gar nicht.

Irgendwie

Unterm Strich muss ich sagen: Ich hätte mich wirklich über ein wenig mehr Support gefreut. Oder ein Ohr. Kinder, große und kleine, die bemerken, dass sie von ihren Eltern nicht gehört werden, erfinden eigene Wege, sich ihre Wünsche zu erfüllen oder Probleme zu bewältigen – so wie mit dem Interview bei der Lokalpresse. Aber auch anders.

Wenn ich zum Beispiel Geld brauchte – wobei wollte es besser trifft, denn genau genommen war ich lediglich auf das Gefühl aus, mehr Möglichkeiten zu haben -, zog ich es meiner Oma aus der Tasche, da sie so gut wie keinen Überblick darüber hatte. Das war viel einfacher, als meine Mutter im Supermarkt um eine Zeitschrift oder ein Spielzeug zu bitten und dann, anstelle einer klaren Antwort, nichtssagendes Schweigen abzubekommen oder irgendetwas, das sich für mich wie zusammenhangsloser Kauderwelsch anhörte. Alles nur, weil meine Mutter nicht akzeptieren konnte, die finanzielle Hauptlast zu tragen. Weil mein Vater es nicht konnte. Aber dessen ungeachtet: Bis heute schaffe ich es nicht, mich auf meine Mutter einzulassen. Sie ist einfach zu weit weg.

Mit kriminellem Spirit ist alles machbar. (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Mein Diebesgut gab ich übrigens nicht aus, nur das eine Mal für einen Plüsch-Dinosaurier, den ich dann gegen ein riesiges Krokodil tauschte, mit dem ich hinterher todunglücklich war. Aber abgesehen davon lagerte ich meine Beute irrwitzig offensichtlich in einer transparenten Plastikdose im Geldschrank meiner Mutter – denn da gehörte es schließlich hin. Bezeichnend ist, dass es dann trotzdem unverhältnismäßig lange dauerte, bis meine Machenschaften bemerkt wurden und ich Zunder bekam. Ich erinnere mich noch, dass ich mich an jenem Tag, während eines Wandertags, quer über den Marktplatz übergeben hatte, und direkt ins Kreuzverhör geriet, als ich Zuhause ankam.

Später, auf dem Gymnasium, brachte das Stillschweigen zwischen mir und meiner Mutter – und natürlich auch die Abwesenheit meines Vaters – weitere kreative Kompensations- und Lösungsstrategien mit sich. Wenn ich zum Beispiel schlechte Noten schrieb, fälschte ich die Unterschrift meiner Mutter. Doch in gewisser Weise hatte ich dafür ja eine Legitimation. Denn zu Beginn der fünften Klasse hieß es glasklar: „Mach irgendwie Abitur, egal wie. Ich kann dir nicht helfen.“ Das hatte ich beim Wort genommen. Doch meine Art, irgendwie klarzukommen, gefiel meiner Mutter überhaupt nicht.

Irgendwie. Bei meiner Mutter hatte dieser Begriff vor allem mit Desinteresse zu tun. Bei meinem Vater hingegen bedeutete er Wunschdenken. „Irgendwie geht alles“, sagte er oft und war damit genauso weit weg von der Realität wie meine Mutter. Wer will denn nur irgendwie klarkommen? Wer will nur irgendwie leben? Wer will es nur irgendwie schaffen? Ich bin manchmal schon noch ein bisschen verärgert, dass ich diese naive, leblose Einstellung so lange Zeit mitgetragen habe. Heute versuche ich, meinen Kindern etwas anderes zu vermitteln.

Im Brennpunkt

Ich glaube, damals wäre ich ohne Probleme als Mitglied einer bei RTL und Co gezeigten Familien im Brennpunkt durchgegangen – besonders als ich am Tiefpunkt war und nach meinem Ausbruch von Zuhause drei Monate mit meinem Vater und seiner Dumpfbacke zusammenlebte. Als Babysitterin und Haushälterin, die Weinflaschen-anstelle-von-Obst-oder-Gemüse-weil-Obst-und-Gemüse-zu-teuer-waren-Einkaufskörbe in den sechsten Stock tragen durfte. Dazu die immer wunderlicher werdenden dumpfback’schen Allüren und der fehlende Freiraum einer winzigen Wohnung inmitten eines Wohngebiets, wo lauter fragwürdige Gestalten lebten.

Zehn Kilo Körpergewicht hat mich das gekostet und natürlich einiges an Selbstvertrauen. Das war bevor ich meinen Mann kennenlernte und mit ihm endgültig das Weite suchte. Ausgerechnet meine Mutter fragte mich zu dieser Zeit: „Kommt es dir nicht falsch vor, mit einem zusammen zu sein, der studiert? Der ist doch auf einem ganz anderen Level als du.“

Das kann einen schon aus dem Gleichgewicht bringen.

Die Drogen waren Schuld

Und wenn sich dazu noch eine schulische Niederlage an die andere reiht… Ich erinnere mich daran, wie meine Lehrer aufgrund meines schlanken, blassen Äußeren fest davon überzeugt waren, ich würde Drogen konsumieren. Entsprechend gingen sie mit mir um. Ironischerweise war ich tatsächlich die Einzige, die bis heute noch nie auch nur an einer Zigarette gezogen hat. Darauf hätten die Herren und Damen seinerzeit eigentlich kommen müssen. Ich meine: Hat schon mal jemand eine Kuh mit Zigarette im Maul gesehen?

Zeigt mir eine Kuh, die raucht! (Bild: wirbelwirrwarr.de)

Ende Gelände

Was nach dieser Zeit kam, ist nicht leicht kurz zu fassen, denn ich entwickelte allerhand psychische Eigenarten, die besonders meinem Mann das Leben schwer machten. Sechs Therapien schafften dabei nicht ansatzweise, was meine Kinder schafften. Aber darüber berichte ich ein anderes Mal, wenn ihr wollt.

Das soll es erstmal gewesen sein, auch wenn es sicherlich noch mehr gegeben hätte, was „offenbarenswert“ gewesen wäre. Aber es ist ja doch ein Unterschied, jemandem eine Mail zu schreiben oder Teile seiner Geschichte in einem Blog zu veröffentlichen. Deshalb muss es hier eher oberflächlich und lückenhaft bleiben.

Ich hoffe, ich hab euch nicht gelangweilt. Freut euch jedenfalls schon auf den nächsten Beitrag.