Mit instabilen Kopfgelenken (CCI/AAI) hat man sich eine Erkrankung eingefangen, die leider kaum wahrgenommen, ernstgenommen oder begriffen wird. Ganz anders ist es mit Krebs, der bei jedermann fast reflexartig Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und Interesse auslöst. Aber woher kommt dieser Kontrast? Und können wir ihn auflösen, wenn wir Krebs als Schablone benutzen?


Krebs kennt jeder

Moderne Gesellschaften, die Menschen mit hoher Lebenserwartung beherbergen, sind Hochburgen chronischer Krankheiten. Doch nicht alle erlangen dieselbe Aufmerksamkeit. Während Krebs zweifellos zu den bekanntesten Leiden zählt, bleiben andere wie instabile Kopfgelenke oft im Schatten. Diese Diskrepanz wird unter anderem anhand der medizinischen Versorgungslage, im sozialen Miteinander und durch die verschieden gewichtete mediale Informationsverbreitung und Aufklärung deutlich.

Führt euch nur mal die regelmäßigen Spenden-Events für die Krebsforschung im Fernsehen vor Augen, die für gewöhnlich mit prominenter Unterstützung veranstaltet werden. Solch ein Engagement für instabile Kopfgelenke – ein Traum. Aber wir wollen uns jetzt nicht ärgern. Ich denke stattdessen, die Erfolge bei der Krebssensibilisierung bieten wertvolle Einblicke in Möglichkeiten, wie das kollektive Bewusstsein auch für instabile Kopfgelenke oder andere seltene Erkrankungen gestärkt werden kann. Dazu dröseln wir am besten möglichst kleinschrittig die Gründe für die große Bekanntheit von Krebs auf und stellen sie den Gegebenheiten bei CCI/AAI gegenüber.

Warum Krebs allgegenwärtig ist und CCI/AAI nicht

Krebs ist überall, oder bilde ich mir das nur ein? Hier einige Gründe dafür:

  1. Krankheitsbegriff:
    Krebs ist die volkstümliche Bezeichnung für das Vorhandensein maligner Tumore (bösartige Tumore). Der Begriff ist handlich und einprägsam, im Gegensatz zu den meisten schnörkeligen Termini innerhalb der Medizin. Das zeigt: Krebs ist kein Mysterium der Medizinwelt, sondern voll im Alltagsbewusstsein verankert.
    Die Bezeichnung instabile Kopfgelenke (von den Fachausdrücken fangen wir gar nicht erst an) enthält hingegen viele Fragezeichen. Zum Beispiel: Was sind Kopfgelenke? Was machen die überhaupt? Was heißt instabil? All diese Ungereimtheiten sind Hürden, die nur mit entsprechender Motivation ausgeräumt werden können, beispielsweise wenn man betroffen ist oder die Vermutung hegt, betroffen zu sein.
  1. Prävalenz und Vielfalt:
    Krebs kann nahezu in jedem Teil des Körpers auftreten und verschiedene Formen annehmen. Diese Breite macht die Krankheit für Menschen jeglichen Alters, Herkunft und Status relevant.
    Für instabile Kopfgelenke gilt zwar das Gleiche, nur weiß das kaum jemand, denn…
  2. Symptome und Diagnose:
    Krebs geht oft mit wegweisenden Symptomen einher und lässt sich relativ schnell und eindeutig diagnostizieren. Ärzte und Patienten nehmen einander ernst, das Krankheitsbild ist überall akzeptiert. Die Symptome instabiler Kopfgelenke sind vielfältig und von Individuum zu Individuum unterschiedlich gewichtet. Dadurch ist es schwer, sie schnell und eindeutig einem Krankheitsbild zuzuordnen. Viele Betroffene bleiben jahrelang undiagnostiziert.
  3. Sichtbarkeit:
    Krebs lässt sich einerseits gut diagnostizieren und wird mit der Zeit auch von außen erkennbar – beispielsweise durch die Auswirkungen der Behandlung.
    Demgegenüber wirken Patienten mit instabilen Kopfgelenken oft kerngesund. Manchmal kann man sie als krank erkennen, sobald sie eine Halskrause tragen oder an schlechten Tagen einen Rollstuhl nutzen. Diejenigen, die sehr stark betroffen sind, verschwinden hingegen regelrecht von der Bildfläche. Sie verbringen ihr Leben abgeschottet von jeglichen Reizen im Bett, wo sie niemand mehr wahrnehmen kann.
  4. Medienpräsenz:
    Die Medien spielen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Informationen über Krankheiten. Geschichten von Prominenten, die gegen Krebs kämpfen, werden häufig in den Medien aufgegriffen und tragen zur Sensibilisierung bei. Auch in Filmen oder Büchern spielt Krebs immer wieder eine große Rolle.
    Instabile Kopfgelenke werden nahezu gar nicht dramaturgisch verarbeitet und tauchen auch in Berichterstattungen kaum auf.
  5. Gesellschaftliches Bewusstsein:
    Kampagnen, Veranstaltungen und medial getragene Bewusstseinsmonate tragen immer wieder dazu bei, das Bewusstsein für Krebs in der Gesellschaft zu schärfen.
    Awarenessarbeit wird für instabile Kopfgelenke ebenso geleistet, jedoch verbleibt all die Mühe meist innerhalb der Grenzen der Community, da dieses Krankheitsbild für die Menschen außerhalb zu abstrakt erscheint.
  6. Bildung:
    Krebsentstehung ist schon sehr früh Teil der schulischen Ausbildung und wird im Rahmen des Biologieunterrichts anschaulich gelehrt. Krebs wird dadurch für junge Menschen salient und manche von ihnen bilden früh das berufliche Ziel aus, sich dahingehend zu engagieren.
    Von instabilen Kopfgelenken erfährt man in der Regel erst, sobald dort Beschwerden auftreten.
  7. Zuständigkeit:
    Krebs besitzt ein eigenes Fachgebiet, die Onkologie. Aber auch andere Fachdisziplinen sowie Anbieter alternativer Heilangebote sind dahingehend spezialisiert.
    Für instabile Kopfgelenke kämen beispielsweise die Neurochirurgie und die Orthopädie als Wegbegleiter in Frage. Doch innerhalb dieser Disziplinen herrscht leider viel Unkenntnis oder Zweifel.
  8. Vorsorgeangebote:
    Fast jeder Gang zum Arzt konfrontiert uns mit Plakaten, Broschüren oder Symbolen rund um Krebs. Sie legen uns ans Herz, achtsam zu sein und Vorsorgetermine wahrzunehmen, um Krebserkrankungen möglichst schnell zu entdecken und behandeln lassen zu können.
    Für instabile Kopfgelenke existiert nichts dergleichen.
  9. Räumliche Nähe:
    Krebs scheint stets in räumlicher Nähe zu sein, sei es in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder innerhalb der Familie. Dadurch ist Krebs auch oft ein Gesprächsthema und sickert tiefer in unser Bewusstsein.
    Was waren noch gleich instabile Kopfgelenke?
Krebs ist überall. Zum Glück wird er gesehen. (Bild: Tima Miroshnichenko – pexels.com)

Was wir schon tun, was wir ansonsten tun können und ob es zielführend ist

Es wäre toll, würden instabile Kopfgelenke mehr Unterstützung und Aufmerksamkeit erhalten. Nehmen wir Krebs als Vorbild, ergeben sich einige Schritte, um das Bewusstsein für instabile Kopfgelenke zu erhöhen. Diese müssen wir aber zugleich kritisch betrachten, um nicht die damit verbundenen Hürden aus den Augen zu verlieren.

1. Bildung und Information:
Die Grundlage einer erfolgreichen Sensibilisierung ist Bildung. Kampagnen, Informationsveranstaltungen und Online-Ressourcen können dazu beitragen, das Wissen über seltene Erkrankungen zu verbreiten. Medizinische Fachkräfte, Patientenorganisationen und Forschungseinrichtungen können hier eine entscheidende Rolle spielen, indem sie verständliche Informationen bereitstellen.

Aber: Obwohl Bildung zweifellos wichtig ist, um das Verständnis für seltene Erkrankungen zu fördern, stoßen Informationskampagnen oft auf begrenzte Reichweite. Informationen werden häufig von denjenigen aufgenommen, die bereits ein Interesse oder eine Verbindung zu der betreffenden Erkrankung haben. Das breite Publikum, das ein neues Bewusstsein benötigt, wird möglicherweise nicht erreicht.

2. Geschichten erzählen:
Individuelle Erfahrungen bis hin zu Triumpherlebnissen können bei der Krankheitsbewältigung sehr nützlich sein. Die Suche nach Ärzten wird erleichtert, neue Inspiration sorgt für Hoffnung und mehr Auswahl in Bezug auf medizinisch-therapeutische Optionen.

Aber: Die Idee, persönliche Geschichten von Betroffenen zu teilen, wirkt vielversprechend. Allerdings könnten solche Geschichten außerhalb der Community der Betroffenen, wo allerhand andere Angelegenheiten um Aufmerksamkeit konkurrieren, auf „taube Ohren“ stoßen. Ein Großteil der Aufmerksamkeit kommt aus der Gemeinschaft.

3. Medien und Öffentlichkeitsarbeit:
Die Medien sind ein starkes Instrument, um das Bewusstsein zu schärfen. Berichte, Dokumentationen und Interviews mit Experten können das Interesse der Öffentlichkeit wecken. Journalisten können aufgefordert werden, über seltene Erkrankungen zu berichten und die Öffentlichkeit aufzuklären.

Aber: Medienberichterstattung neigt dazu, sich auf emotionale Aspekte zu konzentrieren. Dies kann zur Folge haben, dass seltene Erkrankungen vereinfacht oder sensationalisiert dargestellt werden. Statt eines informierten Dialogs könnte die Berichterstattung zu einem verzerrten Verständnis beitragen.

4. Gemeinschaftsbildung:
Online-Plattformen und soziale Medien bieten die Möglichkeit, Gemeinschaften von Betroffenen, Angehörigen und Interessierten aufzubauen. Der Austausch von Informationen, Ratschlägen und Unterstützung kann das Bewusstsein für seltene Erkrankungen steigern.

Aber: Gemeinschaften von Betroffenen sind oft von Natur aus begrenzt. Online-Plattformen erreichen häufig nur Menschen, die bereits ein Interesse an der Krankheit haben; man spricht sich gegenseitig aus dem Herzen. Betroffene bekommen dadurch die Gewissheit, mit ihrem Schicksal nicht allein zu sein, doch sie geraten zugleich auf ein Abstellgleis. Schlimmstenfalls lassen Frust und Verzweiflung das Potenzial, Menschen außerhalb dieser Blase zu erreichen, ungenutzt.

5. Internationale Awareness-Tage und Monate:
Ähnlich wie der „World Cancer Day“ werden internationale Tage oder Monate für seltene Erkrankungen geschaffen. Diese sollen dazu beitragen, eine breitere Aufmerksamkeit und Diskussion in der Gesellschaft zu fördern.

Aber: Die Aufmerksamkeit, die internationale Awareness-Tage oder -Monate erzeugen, ist oft nur von kurzer Dauer, wenn sowas überhaupt nach außen dringt. Es besteht die Gefahr, dass das Thema danach wieder in Vergessenheit gerät. Die langfristige Wirkung solcher Anlässe ist fraglich, zumal es sowas mittlerweile für alle möglichen Erkrankungen gibt.

6. Partnerschaften und Kooperationen:
Zusammenarbeit zwischen Patientenorganisationen, medizinischen Einrichtungen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen kann dazu beitragen, das Bewusstsein für seltene Erkrankungen zu steigern. Gemeinsame Anstrengungen können die Reichweite und den Einfluss von Sensibilisierungskampagnen erweitern.

Aber: Die Zusammenarbeit sollte ethisch verantwortungsbewusst und transparent gestaltet sein.

7. Bildungseinrichtungen einbinden:
Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen können für die Sensibilisierung seltener Erkrankungen einbezogen werden. Betroffene könnten Workshops, Vorlesungen und Seminare ausgestalten, um in Form eines Weiterbildungsangebots dafür Sorge zu tragen, dass der medizinisch-therapeutische Nachwuchs bestimmte Merkmale seltener Erkrankungen im Hinterkopf behält.

Aber: Obwohl Bildungseinrichtungen ein hohes Potenzial haben, das Bewusstsein zu schärfen, können Programme zur Sensibilisierung für seltene Erkrankungen aufgrund des überfüllten Lehrplans oder mangelnden Engagements nicht ausreichend integriert werden.

8. Symbole: Ein besonders bekanntes Zeichen des Beistands im Kontext Krebs sind kleine Ansteckschleifen, auch Awareness Ribbons genannt. Inzwischen gibt es sie in verschiedenen Farben. Jade steht zum Beispiel in Verbindung mit Leberkrebs, Orange mit Leukämie und Rosa macht auf Brustkrebs aufmerksam. Seltene Erkrankungen, wozu auch instabile Kopfgelenke zählen, werden oft mit einem Zebra-Aufdruck sichtbar gemacht. Die Schleife als klassisches und zeitloses Symbol hat etwas Ehrfurcht gebietendes, wird überall erkannt und sorgt, wenn sie öfter irgendwo auftaucht, definitiv für Beachtung.

Aber: Innerhalb der Gemeinschaft CCI/AAI-Betroffener wird die Bewusstseinsschleife immer wieder neu erfunden oder gänzlich ausgetauscht. Zebras oder Okapis in Halskrausen, Sprungfedern oder Wackeldackel – eben alles, was irgendeinen Bezug zu „selten“ und „Wackelhals“ hat – werden als Maskottchen erprobt. Die Kreativität dabei ist wunderbar, wie ich finde. Doch vielleicht geht angesichts dieser Vielfalt der Blick dafür verloren, dass wir Zebras, Okapis und Sprungfedern alle zusammengehören?

Jeder kennt sie, jeder verbindet damit Anteilnahme. (Bild: Peter Lomas – pixabay.com)

Und was nun?

Also zunächst einmal: Ich möchte nicht, dass ihr glaubt, ich sei eine Meckerliese. Ich finde das Engagement innerhalb unserer Community wirklich beachtlich und lobenswert. Besonders ziehe ich meinen Hut vor denjenigen, die trotz ihrer Beschwerden immer wieder Ideen entwickeln und versuchen, mehr Aufmerksamkeit auf uns alle zu lenken.

Unterm Strich erscheint es trotzdem sinnvoll, hier und da eine andere Vorgehensweise auszuprobieren. Anstatt zum Beispiel themenfremde Personen gleich mit lauter Fakten zu überfordern, könnte man instabile Kopfgelenke zunächst einmal versuchen bestmöglich zu entkomplizieren – zumindest um dieses Krankheitsbild leicht zugänglich aussehen zu lassen. Das kann, ähnlich wie bei Krebs, über ganz abgespeckte, aber eindeutige Begriffe, Signale und Symbole innerhalb eines seriösen und vertrauenswürdigen Umfeldes (Arztpraxis) passieren. Das heißt, es bräuchte eventuell eine einheitliche Alternative für Zebras, Okapis und Sprungfedern in Halskrausen – auch wenn sie alle niedlich sind. Zumal die Frage ist: Wie werden wir mit solcher Symbolik wahrgenommen? Ich meine: Wir als Gemeinschaft wissen, was Zebra und Co zu bedeuten haben. Wissen es auch diejenigen außerhalb? Und was bedeutet das in der Konsequenz? (Nur mal als Anstoß.)

Ist das Interesse jedenfalls erstmal geweckt, können Blogs wie dieser, YouTube-Videos, Ratgeber und durch Wackelhälse gestaltete Seminare und Vorträge gezielt medizinisch- therapeutische Berufsgruppen ansprechen, damit diese auf Begegnungen mit Zebras vorbereitet sind und uns in Zukunft schneller geholfen werden kann.

Was denkt ihr darüber?