Wer von euch eine seltene Erkrankung hat, kennt vermutlich folgende Bredouille: Es gibt da diesen großen Wunsch weiterzukommen, weg aus dem Klammergriff von Ungewissheit und Stagnation – und dafür bräuchte es nur diesen einen Besuch beim Facharzt, eine bestimmte Untersuchung oder einen Labortest. Der Hausarzt jedoch möchte keine Überweisung ausstellen und der Facharzt wiederum stellt sich ohne quer. Dürfen die das eigentlich?
Die freie Wahl
Auch wenn jeder von uns chronisch Kranken einige Dinge über das deutsche Gesundheitssystem zu nennen wüsste, die verbesserungsfähig wären, kommt hier erstmal das Schöne: die freie Arztwahl – für privat Krankenversicherte als auch Kassenpatienten. Seit dem Wegfall der Praxisgebühr im Jahr 2013 braucht es nicht einmal mehr Überweisungsscheine für die Fachärzte. Man kann gehen, wohin man will, auch bis ans Ende dieser – von Deutschland. Das Problem ist nur – und schon sind wir beim Schlechten: Viele Facharztpraxen bestehen auf den Überweisungsschein. Taucht man ohne dort auf, heißt es schlimmstenfalls Ciao, bis zum nächsten Mal in einem halben Jahr. Ärgerlich. Aber auch zulässig?
Wozu die ganze Zettelwirtschaft?
Alle möglichen Bestimmungen rund um Überweisungen können im sogenannten Bundesmantelvertrag der Ärzte entdeckt werden. Darin ist beispielsweise aufgeführt, welche Bedingungen für das Ausstellen einer Überweisung erfüllt sein müssen (Krankenversichertenkarte), wie Überweisungen formal auszusehen haben, welche Aufträge über diesen Weg erteilt werden können und wer überhaupt Überweisungen schreiben darf.
Aber so viel Zettelwirtschaft für etwas, was seit 2013 eigentlich keine Pflicht mehr darstellt?
Koordination, Kommunikation und Kontrolle
Überweisungen müssen nicht sein, doch sie sind durchaus sinnvoll. Sie erleichtern zum Beispiel die Kommunikation der Ärzte untereinander, wodurch eine zielgerichtete und korrekt adressierte Diagnostik und Behandlung gewährleistet werden kann. Der Hausarzt fungiert dabei als Knotenpunkt, bei dem alle Befunde gesammelt und von wo aus weitere Schritte koordiniert werden.
Der Vorteil liegt auf der Hand: Bekommt ein Patient von verschiedenen Fachärzten Medikamente verordnet, sieht der Hausarzt sofort, ob sich hieraus Wechselwirkungen ergeben könnten. Auch überflüssige, womöglich riskante Maßnahmen werden auf diese Weise verhindert.
Aber ich weiß schon, euch interessieren an dieser Stelle vor allem zwei Szenarien.
Szenario 1: Angenommen, jemand möchte zu einem bestimmten Facharzt und wird weggeschickt, weil er keine Überweisung vorzeigen kann. Ist das erlaubt?
Szenario 2: Und angenommen, jemand möchte zu einem dieser Fachärzte, der Hausarzt verweigert jedoch das Ausstellen einer Überweisung. Ist das erlaubt?
Na, gucken wir doch mal.
Szenario 1: Der Facharzt stellt sich quer
Ob ein Facharzt einen Patienten ablehnen kann, der ohne Überweisung bei ihm auftaucht, sagt uns zum Beispiel die ärztliche Berufsordnung in § 7 Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln. Darin heißt es:
Ärztinnen und Ärzte achten das Recht ihrer Patientinnen und Patienten, die Ärztin oder den Arzt frei zu wählen oder zu wechseln. Andererseits sind – von Notfällen oder besonderen rechtlichen Verpflichtungen abgesehen – auch Ärztinnen und Ärzte frei, eine Behandlung abzulehnen.
Ärztliche Berufsordnung, §7, Absatz 2
Wie es aussieht, dürfen Ärzte die Behandlung von Patienten verweigern. Ein Behandlungsvertrag mit einem Arzt kommt nämlich nicht automatisch zustande, sondern erfordert laut §630a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), Absatz 1 die Zustimmung von Patient UND Arzt – schließlich steht beiden die gesetzliche Vertragsfreiheit zu. Und wenn der Arzt nun mal auf seine Überweisung besteht…
„Durch den Behandlungsvertrag wird derjenige, welcher die medizinische Behandlung eines Patienten zusagt (Behandelnder), zur Leistung der versprochenen Behandlung, der andere Teil (Patient) zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet, soweit nicht ein Dritter zur Zahlung verpflichtet ist.“
§630a BGB, Abs. 1
Nun sind niedergelassene Ärzte oft Vertragsärzte, sie nehmen also an der vertragsärztlichen Versorgung von gesetzlich oder privat versicherten Patienten teil. Hierzu sagt die entsprechende Gesetzesgrundlage in §95 Absatz 3 Satz 1 SGB V, dass Vertragsärzte verpflichtet sind, die Versorgung der krankenversicherten Patienten zu übernehmen. Ausnahme laut §13 Abs. 7 Bundesmantelvertrag Ärzte: Der Vertragsarzt darf die Behandlung in begründeten Fällen (wenn zum Beispiel kein Vertrauensverhältnis besteht) ablehnen.
Wenn der Arzt also nicht will, dann muss er nicht. Wenn er jedoch will, kann es trotzdem sein, dass er ohne Überweisung nicht tätig werden darf. Das ist zum Beispiel bei medizinisch-technischen Arztgruppen der Fall:
- Labormedizin
- Mikrobiologie
- Nuklearmedizin
- Pathologie
- Röntgendiagnostik
- Strahlentherapie
- Transfusionsmedizin
Doch Achtung! Die ärztliche Berufsordnung, Paragraph 7, Absatz 2, sagt auch, dass diese Wahlfreiheit nur besteht, solange es sich nicht um einen Notfall handelt. Umgedreht: Erscheint ein Patient mit möglicherweise lebensbedrohlichen Symptomen in der Praxis eines Arztes, muss ihm geholfen werden.
Was gilt eigentlich als Notfall?
Stellt sich sofort die Frage, ab wann jemand als Notfallpatient bewertet wird und wo dabei die Grenzen gezogen werden. Gilt als Notfall jemand mit chronischen Schmerzen, die ihn nicht schlafen lassen? Oder braucht es dafür Blut?
Der Pschyrembel definiert Notfall so:
„Akuter, lebensbedrohlicher klinischer Zustand durch Störung der Vitalfunktionen oder Gefahr plötzlich eintretender, irreversibler Organschädigung infolge eines Traumas, einer akuten Erkrankung oder einer Intoxikation.“
Pschyrembel online, 06.03.2023
Heißt also: Ein Notfall ist immer akut, lebensbedrohlich und/oder führt, wenn keine sofortige Behandlung eingeleitet wird, zu Schäden im oder am Körper. Klingt gar nicht mal so konkret, oder? Denn anders als bei offensichtlichen Notfällen – wenn zum Beispiel kilometerhoch das Blut aus der Oberschenkelarterie schießt -, entpuppen sich manche Leiden erst als Notfall, nachdem sie gründlich untersucht worden sind.
Drei Erlebnisse
Damit ihr mal seht, was ich meine, gibt’s jetzt drei Beispiele aus meiner Erfahrung:
Als unsere Tochter Anne etwas älter als drei Monate war, bekam sie hohes Fieber – war aber ansonsten fröhlich. Ich entschied, mit ihr zur Notaufnahme zu fahren, anstatt erstmal Zeit beim Kinderarzt zu vergeuden. Die Schwester an der Anmeldung der Notaufnahme war zuerst erbost über unser Kommen, nach entsprechenden Untersuchungen stellte sich jedoch raus: dicke Nierenbeckenentzündung und Grippe. Anne war damit ein waschechter Notfall, der nicht länger hätte warten können. Hier könnt ihr die ganze Geschichte lesen.
Unsere Tochter Johanna fiel mit anderthalb Jahren elf Stufen von einer schmalen Treppe. Sofort fuhren wir mit ihr in ein Krankenhaus und präsentierten den Ärzten ihre Unfallgeschichte. Kurz darauf herrschte höchste Vorsicht. Sogar der Chefarzt unterbrach seinen wohlverdienten Feierabend und hetzte, das werde ich nie vergessen, im Weihnachtspullover zu uns, allzeit bereit, Johanna den Schädel zu öffnen. Es ging alles gut aus, bis auf eine kleine Beule.
Als unser Sohn Raban die U4 (eine Vorsorgeuntersuchung für Babys zwischen drei und vier Monaten) absolvieren musste, fiel unserer Kinderärztin sein Nystagmus (ruckartige Augenbewegungen) und das Sonnenuntergangsphänomen auf (starkes Schielen nach unten). Ihr Verdacht lautete Hirnbluten, also scheuchte sie uns ins Krankenhaus. Ich selbst war mir zwar sicher, dass Raban kein Hirnbluten haben konnte, um aber den kleinsten Zweifel auszuräumen hechtete ich mit ihm trotzdem wie eine Wahnsinniggewordene am Empfang der Notaufnahme vorbei zu einer Schwester, die sofort erkannte, worum es ging. Prompt stand auch ein Neurologe auf der Matte, es gab ein paar Untersuchungen und schnell war klar: kein Hirnbluten, „nur“ kranke Augen.
Ihr seht also: Was wie ein Notfall aussieht, ist nicht zwingend einer, und was nicht wie ein Notfall aussieht, kann trotzdem einer sein. Es ist und bleibt Aufgabe von Ärzten, euch anzuhören, um eine stichfeste Aussage darüber treffen zu können, in welche der beiden Kategorien ihr hineingehört.
Schauen wir nun auf das nächste Szenario.
Szenario 2: Der Hausarzt stellt sich quer
Ob ein Hausarzt einem Patienten das Ausstellen einer Überweisung verweigern darf, lässt sich ebenfalls aus der Berufsordnung in § 7 Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln ablesen:
„Den begründeten Wunsch der Patientin oder des Patienten, eine weitere Ärztin oder einen weiteren Arzt zuzuziehen oder einer anderen Ärztin oder einem anderen Arzt überwiesen zu werden, soll die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt in der Regel nicht ablehnen.“
Berufsordnung nach §7 Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln
Na, das klingt doch schon besser. Aber kleiner Wermutstropfen: Im Bundesmantelvertrag der Ärzte steht:
„Für die Notwendigkeit der Auftragserteilung ist der auftragserteilende Vertragsarzt verantwortlich.“
Bundesmantelvertrag der Ärzte, §24 Abs. 7
Wenn der Hausarzt also glaubt, ein Besuch beim Facharzt bringt weniger Nutzen als es kostet, muss er keine Überweisung ausstellen.
Aber im Bundesmantelvertrag der Ärzte steht ebenfalls:
„Soweit dies für die Diagnostik und Therapie erforderlich ist, haben sie rechtzeitig andere Ärztinnen und Ärzte hinzuzuziehen oder ihnen die Patientin oder den Patienten zur Fortsetzung der Behandlung zu überweisen.“
Bundesmantelvertrag der Ärzte, §24 Abs. 3
Wenn nun also ein Patient den Wunsch nach einer Überweisung äußert, der Hausarzt aber bereits an die Grenzen seiner Fähigkeiten gestoßen ist, muss er zum Wohle des Patienten Hilfe hinzuziehen und rechtzeitig, bevor womöglich (noch mehr) Schaden entsteht, eine Überweisung ausstellen. So jedenfalls verstehe ich das.
Im Zweifel druckt ihr euch den §24 Bundesmantelvertrag der Ärzte einfach aus und nehmt ihn zu eurem Hausarzt mit. In letzter Instanz könnt ihr sogar Beschwerde bei der Landesärztekammer einreichen.
Lasst euch nicht lumpen, aber seid auch verständnisvoll
Meiner Meinung nach ist es gerechtfertigt, wenn Ärzte nicht immer den Wünschen ihrer Patienten entsprechen. Dies sollte aber niemals aus Prinzip so sein, sondern dem Wohle des Patienten dienen. Ist das nicht der Fall, sollte ein Patient sein Recht unbedingt einfordern, notfalls auch mit einer Beschwerde oder einem Arztwechsel.
Zu einer guten medizinischen Versorgung gehört weiterhin, dass auch Patienten sich nicht prinzipiell querstellen. Stattdessen sollten sie versuchen, manchen lästigen Auflagen, wie Überweisungen, auch etwas Gutes abzugewinnen, denn ganz nutzlos sind sie ja wirklich nicht.
Mehr zu Medizinrecht
Wollt ihr mehr zu diesem Thema wissen? Dann schaut mal in diesen umassenden Ratgeber für Behandlungspflicht vom Verlag für Rechtsjournalismus. Darin werden insbesondere folgende Aspekte beleuchtet:
- Ist ein Arzt generell verpflichtet, mich zu behandeln?
- Wann besteht eine Behandlungspflicht?
- Was ist zu tun, wenn ein Arzt eine Behandlung verweigert?
Viel Spaß beim Lesen!
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