Eine Zeit lang wurde angenommen, dass die Bänder und Muskeln des Halses unabhängig von der Dura, der Schutzhülle des Gehirns und des Rückenmarks, seien. Mit einem Mal entdeckten Wissenschaftler einen neuen Satz von Bändern, die zusammen als Ventrodurales Ligament (VDL) bezeichnet werden und direkt an der Dura ansetzen. Was all das für Menschen mit CCI/AAI bedeutet, erfahrt ihr hier.
Vieles liegt immer noch im Dunkeln
Anatomie, die Lehre vom Bau der Organismen, wirkt im Lichte unserer hochentwickelten Untersuchungs- und Forschungsmöglichkeiten wie ein vollkommen enträtseltes Gebiet. Beim Durchblättern hochkomplexer Körperlandkarten fällt es schwer zu glauben, dass dort noch Lücken klaffen. Anatomen beweisen uns jedoch immer wieder das Gegenteil. Vor nicht allzu langer Zeit entdeckten sie im Bereich der Kopfgelenke zum Beispiel einen neuen Satz Bänder, der direkt an der Dura, der Hirnhaut, ansetzt und in das große Nackenband (Ligamentum nuchae) übergeht. Sie werden zusammen als Ventrodurales Ligament (VDL) bezeichnet und besitzen vermutlich die Aufgabe, die hirnnahe Form der Dura und damit auch die Zirkulation der Rückenmarksflüssigkeit zu kontrollieren (Zheng et al., 2014).
Die Dura ist kein Single-Player
Kurz zum Verständnis: Die Dura ist unsere Hirnhaut. Sie ummantelt das Gehirn und das Rückenmark und enthält den Liquor cerebrospinalis, oder auch Hirnwasser, wie es umgangssprachlich bezeichnet wird. Wie ein Kissen schützt diese klare und zellarme Flüssigkeit das Zentrale Nervensystem (ZNS) vor Stößen, hilft, Nährstoffe zu transportieren, Abfallstoffe zu entfernen und die ideale Gehirntemperatur aufrechtzuerhalten. Dura und Halteapparat haben nichts miteinander zu tun – so die lange vorherrschende Meinung. Doch mit der Entdeckung des VDL gerieten plötzlich einige Dinge ins Wanken. Was, das seht ihr hier:
Es sieht aus, als hätte sich zwischen Atlas (C1) und Axis (C2) klammheimlich etwas eingeschlichen, eine Art Brücke. Man muss eigentlich kein Experte sein, um zu sehen: Die Dura ist doch kein Single-Player! Sie ist über das dreigeteilte VDL mit sämtlichen Bändern und Muskeln des Halses verbunden (Zheng et al., 2014). (Merkt euch das am besten für das nächste Mal, wenn ein Neurologe euch mal wieder schief anguckt.) Besonders ein Muskel sticht hierbei hervor: der Musculus rectus capitis posterior minor, der sich zwischen C1 und der Schädelbasis befindet. Er ist sowohl direkt als auch indirekt über das VDR mit der Dura verbunden – für uns Wackelhälse eine wirklich bedeutsame Entdeckung! Denn damit kann niemand mehr anzweifeln, dass Fehlausrichtungen, Dysbalancen oder strukturelle Schwächen im Bereich der Halswirbelsäule den Liquorfluss beeinträchtigen (ebd.)!
Auswirkungen für die Chirurgie
Die Kenntnis des VDL hat besondere Konsequenzen für die Chirurgie. Invasive Eingriffe im Bereich der Halswirbelsäule, inklusive Versteifungsoperationen der Kopfgelenke, müssen neu bewertet und gewichtet werden, da nun das Risiko besteht, den Liquor und somit auch das Gehirn direkt zu beeinflussen. Allein das klingt schon ziemlich herausfordernd. Zheng et al. (2014) geben obendrein zu bedenken, dass das VDR nicht bei allen Menschen gleich ausgebildet ist. Seine drei Teile [atlantischer Teil (V1), Teil des TBNL (to be named ligament; V2), axialer Teil (V3)] variieren von Mensch zu Mensch. Bei einigen sind sie dicker und gehen an unterschiedlichen Stellen in das Nackenband (Lig. nuchae) über.
Was Wackelhälse mitnehmen dürfen
Wackelhälse dürfen aus den Erkenntnissen fleißiger Forscher selbstverständlich ebenfalls etwas mitnehmen, wie etwa ein My mehr Verständnis für die große Bandbreite und die unterschiedliche Intensität der durch laxe Bandapparaturen verursachten Kopfgelenkssymptomatik. Denn diese wird ja anscheinend durch den einzigartigen Aufbau des VDR mitbeeinflusst – sowohl positiv als auch negativ.
Steht für einen von euch bereits das Thema Fusion oder andere chirurgische Eingriffe im HWS-Bereich zur Debatte, sollte laut Zheng und Kollegen (2014) unbedingt das Risiko im Auge behalten werden, dass während eines solchen Eingriffs die Verbindung zwischen Dura, Gehirn und Rückenmark zerstört werden könnte. Eine daraus entstehende Veränderung der Form der Dura müsse bei allen Eingriffen in Betracht gezogen werden und mithin erhebliche Störungen der Zirkulation des Liquors um das Gehirn. Daher ist es wahrscheinlich wichtig, diese Verbindungen zu erhalten (Zheng et al., 2014).
Und last but not least: Der menschliche Körper ist bis heute nicht vollständig erforscht – und daran sollten wir uns stets erinnern. Immer wieder gibt es Überraschungen und es zeigt sich: Krankheit ist keinesfalls ein lokal begrenztes Geschehen und von mehreren ineinandergreifenden Faktoren abhängig, die sich von Mensch zu Mensch zum Teil stark unterscheiden. Besonders für invasive Eingriffe muss festgehalten werden: Diese verursachen, auch wenn unter mikroskopischer Sicht gearbeitet wird, stets Defekte, die in die Kosten-Nutzen-Rechnung aufgenommen werden sollten.
Sprecht, wenn ihr unsicher seid oder Fragen habt, am besten mit einem Arzt über dieses Thema.
Zheng, N. et al. (2014). Definition of the to be named ligament and vertebrodural ligament and their possible effects on the circulation of CSF. PloS one, 9(8), e103451. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0103451
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