Ich glaube, ich werde mich nie daran gewöhnen. Ich meine an die Nachrichten in meinem Postfach, in denen mir Mütter, Jugendliche, Ehemänner, gebildete und einst erfolgreiche Menschen ihre Selbstmordgedanken offenbaren.


Ich weiß es doch!

Ich kann nicht mal viel entgegensetzen, wenn es heißt: „Christin, ich schwöre, wenn das nicht bald aufhört, werfe ich mich vor einen Zug.“ Angesichts der Symptome, die mir diese Menschen auflisten, geht sowas wahrscheinlich wirklich als das kleinere Übel durch. Doch um es klarzustellen: Bisher waren solche Zeilen bloß Frustabbau. Was aber, wenn einer mal wirklich vor den Zug springt? Darf sowas sein?

Ich meine, wer hat denn Lust, Tag ein, Tag aus nicht in der Lage zu sein, selbst einfachste Dinge gebacken zu kriegen? Einkaufen ist eine Mühe, die sich ungefähr so anfühlt wie auf Crystal Meth durch ein mit Schaumstoff gepflastertes Spiegellabyrinth zu torkeln. Und das Gelb der Paprika ist einfach viel zu gelb! Was hat sich die Natur nur dabei gedacht?! Und dann diese vollgepressten Naschregale, kurz bevor man endlich an der Kasse steht und nicht eher das Weite suchen kann, bis dem Vordermann endlich seine verfluchte PIN eingefallen ist! Schon mal versucht, in der Mitte einer Warteschlange einen Herzkasper zu überspielen!? Ihr Lieben, ich weiß es doch!

Instabile Kopfgelenke sind in jeglicher Hinsicht die Arschkarte. Trinkt man ein Schlückchen Alkohol, wozu die Lust sowieso permanent fehlt, hat man sofort das Gefühl, sich versehentlich den goldenen Schuss gesetzt zu haben. Beschließt man an einem vielversprechenden Morgen einen kleinen Ausflug zu unternehmen, raus aus der heimischen Sicherheitszone, findet man sich nach zehn Minuten Autofahrt mit Herzrasen und kaltem Schweiß mitten auf der Landstraße wieder und fragt sich: „Was hat mich da nur geritten!?“ Umdrehen geht aber nicht, denn auf der Rückbank hocken zwei Kinder, die sich diebisch freuen. Ihr Lieben, ich weiß es doch!

Das Bestmögliche

Und ich könnte mühelos noch tausende solcher Situationen beschreiben, damit andere es auch wissen. Die Sache ist nur: Bringt das was? Oder sagen wir es so: Es ist zwar gut und schön, wenn anderen die Gelegenheit gegeben wird, sich in uns reinzuversetzen, doch mir kommt das ungefähr so vor wie diese neckischen TV-Experimente, in denen Männern gezeigt wird, wie sich eine Geburt anfühlt. Schön, dass sie es mal gespürt haben, aber den Frauen ist damit nicht geholfen. Die müssen ihre Kinder trotzdem unter Schmerzen aus sich rausdrücken. Aber der Punkt ist: Das können sie entweder mit Groll, weil sie für den Moment das schlechtere Los gezogen haben und weil sie damit gefühlt allein dastehen, oder sie lenken ihre Energie darauf, das Bestmögliche aus ihrer Situation zu machen – sofern möglich.

Kennt ihr Blaise Pascal, den Philosophen (und Mathematiker und Physiker und… ach, das reicht ja auch)? „Krankheit ist ein Ort, wo man lernt – keine Strafe“, soll der irgendwann mal rausgehauen haben. Da sieht man’s mal wieder: Wahnsinn und Genie gehen Hand in Hand. Aber ein bisschen ist schon was dran, denke ich. So viel, wie meine Erkrankung mir in den letzten Jahren über mich selbst beigebracht hat, hätte ich als Gesunde mit neunzig bestimmt nicht gewusst. Ich bin also schon froh, noch hier zu sein, obwohl ich diese Gedanken ans Schluss machen auch oft hatte.

Von einer gesunden Zynikerin zur kranken Optimistin

Ich weiß jetzt zum Beispiel, dass ich ganz schön stark bin und Ausdauer habe. Ich weiß auch, dass mein Charakter, nur weil er manchmal ziemlich gewöhnungsbedürftig ist, nicht schlechter ist als der anderer Leute. Wer mich nicht mag, mag mich halt nicht. Zum Glück muss auch ich nicht jeden mögen.
Ich bin mutig geworden und zufriedener, denn jetzt spähe ich nicht mehr nach materiellen Reichtum. Mein Reichtum besteht in den Momenten, in denen ich ganz genau spüre: Mir gehts grad saugut. Und aus solchen Momenten der inneren Ausgeglichenheit erwachsen Stück für Stück Möglichkeiten, trotz Krankheit meinen Platz in dieser Welt einzunehmen – und neue Plätze zu entdecken, sogar dort, wo man es vielleicht gar nicht für möglich hält.

Ja, ich weiß, kaum vorstellbar, wenn es einem geht wie oben beschrieben. Aber ich hab’s eben so gemacht bzw. mache ich es noch immer so; weil das Leben sowieso schon kurz genug ist. Trommelwirbel: Und so wurde ich von einer gesunden Zynikerin, die sich permanent in ihren Kokon versteckt hält, zur kranken Optimistin, die sich was zutraut. Was für eine Metamorphose, was? Aber so finde ich es ehrlich gesagt viel besser.

Ein Alien kommt selten allein

Und schon überkommt mich das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, weil ich „da raus bin“ und jetzt andauernd so blauäugig vor mir herquassle, während meine überschaubare Leserschaft sich vermutlich wie püriert fühlt. Aber täuscht euch mal nicht. Erst letzte Woche, bei einem kurzen Zusammenkommen zwischen Verwandten und Menschen, die ich eigentlich kennen müsste, stellte ich mal wieder fest: „Boah, du bist echt kaputt.“ Ich hatte nämlich meine Sonnenbrille Zuhause liegen lassen und musste auf der Dachterrasse unserer lieben Gastgeber mit Texturen und Lichtstrahlen kämpfen wie jemand, der in ein Wespennest getreten ist. Oder um bei meinem Bild zu bleiben: Vielleicht auch wie ein Schmetterling, der wochenlang nur Dunkelheit kannte und plötzlich mit dem Gesicht voran in die Welt fällt. „Wärst du nur weg“, dachte ich immerzu und fantasierte, wie ich den wackelnden Fransenvorhang, der das Wohnzimmer vom Außenbereich trennte, kurzerhand absäble. In der Realität schickt sich sowas natürlich nicht.

Und wenn ich an den schrecklichen Herzkasper von gestern denke…

Jedenfalls sind solche Situationen wie kleine Erinnerungen, die mir sagen: „Nein, nein, nein! Noch bist du nicht raus aus der Sache!“ Aber ok, bis hier her hat es vier Jahre gedauert – wer weiß, was ist, wenn nochmal vier Jahre vergangen sind. Bin ich dann ein Schmetterling, der über die Wiese flattert und erkennen muss, dass alle seine Artgenossen sich in ihren Kokons aufgegeben haben? Das wäre traurig. Also bitte: Gebt euch nicht auf. Und gebt eure Mitmenschen nicht auf. Ich weiß, mit CCI kommt man sich vor wie ein Alien, aber seht es mal so: Ein Alien kommt selten allein. 😉

Ich bin da

Wenn es mal richtig schlimm ist, dann scheut euch nicht und holt euch Hilfe. Ruft entweder die Telefonseelsorge unter der kostenlosen Nummer 0800 1110111 an – dort ist jederzeit jemand für euch erreichbar und kann euch zumindest ein kleines Auffangnetz bieten – oder begebt euch sofort in ein Krankenhaus. Gern könnt ihr auch mich kontaktieren und rauslassen, was eben raus muss. Allerdings bin ich nicht rund um die Uhr erreichbar und biete auch keine therapeutische Intervention an. Ich höre aber gern zu und begleite euch für einen Moment, wenn ihr Anlauf nehmt, nach neuen Lösungen und kompetenten Leuten zu suchen, die sich eurer Beschwerden annehmen. Und ob ihr wollt oder nicht: Ich bete für euch. Ganz im Stillen, aber dafür ganz bestimmt.