Er ist einer der zwölf Hirnnerven und bekannt als „Wanderer“. Er liebt Kaugummi, Musik und Spaziergänge in der Natur: der Vagusnerv.


Der Vagus-Tonus

Angstzustände, die zermürben und in regelrechte Schreckensvorahnungen (doom) übergehen, Brainfog, Hypersensibilität, Sehstörungen, Verdauungs- und Orgasmusprobleme, eine niedrige Stresstoleranz, Konzentrationsstörungen und vieles mehr standen im Jahr 2020 unter anderem auf Dr. Ross Hausers Liste, die er im Zuge eines Webinars rund um den Vagusnerv vorstellte. Diese Liste transportierte die zentrale Botschaft seiner gesamten Vortragsreihe: „Wenn euer Vagus-Tonus hoch ist, seid ihr gesund; ist euer Vagus-Tonus niedrig, seid ihr krank.“

Basics zum Vagusnerv

Der Vagusnerv beginnt im Gehirn und verläuft links und rechts durch den Hals in die Brusthöhle. Dort spaltet er sich wiederum auf und innerviert unter anderem Herz, Lunge, Magen, Darm, die Nieren und die Geschlechtsorgane. Es ist, als ob dieser Nerv den ganzen Körper wie ein Wanderer durchquert. Aus eben diesem Grund erhielt er seinen Namen. Vagus stammt nämlich aus dem Lateinischen (vagare) und bedeutet „umherwandern“.
Als Teil des Parasympathikus sorgt er dafür, dass wir uns nach Stressereignissen rasch erholen können – immer vorausgesetzt, der Vagus-Tonus ist hoch.

Kleiner Exkurs:
Lange Zeit wurde das autonomen Nervensystem als eine Art Waage beschrieben, die zwischen Entspannung und Stress hin- und herkippt. Das sympathische System war zuständig für Stressreaktionen, das parasympathische System leitete die darauf folgende Entspannung ein. Dabei galt der Vagusnerv als einzelne Nervenbahn, die dem Parasympathikus zugeordnet wurde. Die inzwischen etablierte Polyvagal-Theorie von Stephen Porges (2010) postuliert wiederum, dass der Vagusnerv aus zwei Ästen besteht – einem vorderen und einem hinteren, die unterschiedlichen Orten entspringen. Daraus ergeben sich für das autonome Nervensystem folgende Bestandteile: der vordere Vagus-Ast (Entspannung), der Sympathikus (Kampf/Flucht) und der hintere Vagus-Ast (Abschaltung, Depression, Verlangsamung).
Der hintere Vagus-Ast kommt vor allem immer dann zum Einsatz, sobald Kampf oder Flucht nicht möglich sind und somit keine andere Option existiert, als zu sich totzustellen (Rosenberg, 2020). Hierzu ein treffender Vergleich: „Löwen sind im Allgemeinen keine Aasfresser. Bemerkt der Löwe also, dass seine Beute plötzlich leblos ist, lässt er sie eventuell fallen und entfernt sich. […] Möglicherweise reicht die Abschaltreaktion der Antilope aus, um den Tötungsinstinkt des Löwen zu stoppen. […] Wenige Sekunden später […] grast es weiter, als sei nichts geschehen“ (Rosenberg, 2020). Hierbei wird sogleich die wichtige Funktion des autonomen Nervensystems in seiner Gesamtheit deutlich: die Sicherung des Überlebens, je nach Situation.

Der Vagusnerv und seine beiden Arme nach dem klassischen Paradigma. (Bild: wirbelwirrwarr)

Der Vagus-Tonus

Ob von einem oder mehreren Vagus-Ästen die Rede ist, spielt für das Folgende nur eine untergeordnete Rolle. Fakt ist so oder so: Der Vagus-Tonus ist messbar. Und zwar mittels Herzratenvariabilität (HRV).

Ein gesundes Herz schlägt nicht gleichmäßig wie ein Metronom. Zwischen zwei Herzschlägen gibt es zeitliche Variationen im Millisekundenbereich. Beim Ausatmen werden die Intervalle zwischen den Schlägen länger, da sich der Puls unter dem Einfluss des Parasympathikus/vorderen Vagus-Astes verlangsamt, und beim Einatmen wiederum kürzer, da der Puls durch das kurze Einschalten des Sympathikus schneller wird – die sogenannte respiratorische Sinusarrhythmie. „Sie widerspiegelt die Innervation des N. vagus am Sinusknoten als Abbild der atemabhängigen Interaktion von Sympathikus, Parasympathikus (PS) und mechanischen Faktoren“ (Fouradoulas et al., 2019). Diese sollte allerdings nicht mit den wirklich pathologischen Herzrhythmusstörungen verwechselt werden!

Hier etwas mehr, da etwas weniger – so sieht Ausgeglichenheit aus. (Bild: wirbelwirrwarr)

Die HRV ist damit gleichsam wie eine Momentaufnahme, die den Zustand des autonomen Nervensystems abbildet und auf dessen Schädigung hinweisen kann. Ist die HRV hoch, spricht dies für eine gute Adaptationsfähigkeit des autonomen Nervensystems ( Heart rate variability: standards of measurement, physiological interpretation and clinical use. Task Force of the European Society of Cardiology and the North American Society of Pacing and Electrophysiology, 1996). Anders formuliert: Je flexibler die Herzratenvariabilität ist, desto besser schaffen wir es, mit körperlichen, seelischen und mentalen Belastungen fertigzuwerden. Schlägt das Herz hingegen zu regelmäßig, ist also die HRV niedrig, ist im Umkehrschluss auch der Vagotonus nicht optimal.

Die Ursachen dafür lassen sich nach Dr. Hauser auf zwei wesentliche Dimensionen einkreisen: Stress und cranio-cervicale Instabilität.

Stress – was ist das eigentlich?

Wenn von Stress gesprochen wird, ist die erste und oft auch einzige Assoziation, die vielen Leuten in den Sinn kommt, Überforderung, die mit der Arbeit oder dem Alltag einhergeht. Doch Stress ist noch wesentlich mehr. Nahrung kann Stress auslösen, ebenso wie Konversationen, Chemikalien, Gedanken oder Schwierigkeiten zu vergeben! Dr. Hauser brachte letzteres wie Folgt auf den Punkt: Nicht zu vergeben ist, als würde man Rattengift schlucken.“

Ein Zuviel an negativen Einflüssen kann bewirken, dass der Vagus-Tonus dauerhaft in zu niedrigen Tonus-Sphären stecken bleibt, erst recht wenn das Zusammenspiel der in nächster Nähe gelegenen Kopfgelenke nicht mehr reibungsfrei funktioniert. Das bedeutet konkret: Ein durch haltlose Strukturen eingeengter Vagusnerv schafft es nicht einmal, den Organismus vor kleinen Stressoren abzuschirmen. Betroffene fühlen sich mitunter wie im Krieg, wenn sie nur den Telefonhörer in die Hand nehmen müssen, um einen Zahnarzttermin zu vereinbaren. Die Symptome sind unter anderem:

  • hoher Puls
  • Unruhe
  • Konzentrationsstörungen
  • Verdauungsprobleme
  • Angstzustände
  • uvm.

Sagt „AH-AH-AH!“

Immer dann, wenn der Vagusnerv infolge einer Instabilität rund um den Kopf-Hals-Bereich komprimiert oder geschädigt wird, spricht Dr. Hauser von einer Cervicovagopathie. Doch wie kann man erkennen, dass ausgerechnet eine Wirbelinstabilität den Vagusnerv in seiner Arbeit behindert? Hierzu ein kleiner Abstecher in die Anatomie des Gaumens:
Der Musculus levator veli palitini ist bekannt als Gaumensegelheber. Er wird durch den (vorderen) Nervus vagus innerviert und sorgt unter anderem dafür, dass in der Paukenhöhle des Gehörgangs über die Öffnung der Tuba auditiva ein Druckausgleich stattfinden kann. Zum anderen ist dieser Muskel dafür zuständig, den weichen Gaumen nach oben zu ziehen, sobald wir kurz nacheinander deutlich – wie beim Onkel Doktor, nur abgehackter – „AH-AH-AH!“ sagen.

Bei genauem Hinsehen kann ebendieser Muskel eine Schädigung des Nervus vagus anzeigen und somit einen Hinweis darauf geben, dass eine Instabilität im Bereich der Halswirbelsäule vorliegt. Denn ist der Vagusnerv geschädigt, kann er den Gaumen nicht angemessen innervieren. In der Konsequenz verlagert sich das Gaumenzäpfchen (Uvula) beim lauten AH-AH-AH! sagen deutlich in eine Richtung des Gaumens, anstatt senkrecht nach unten zu hängen.

Ist der Vagus-Nerv geschädigt, kann er den Gaumen nicht angemessen innervieren. (Bild: wirbelwirrwarr)

Beispiel: Das Gaumenzäpfchen bewegt sich beim „AH!“ sagen nach links. Mögliche Erklärung: Der rechte Musculus levator veli palitini arbeitet nicht richtig, weil mit dem rechten Strang des (vorderen) Vagusnervs ein Problem besteht.

Übrigens wird auch das Hören durch eine Vagus-Schädigung beeinträchtigt, was sich beispielsweise durch eine asymmetrische Hörkanal-Sensitivität äußern kann (z.B. mehr Druck im rechten als im linken Ohr).

Nochmal zum mitmeißeln

Wie hier und da schon angedeutet, liefert die Polyvagal-Theorie umfassendere Erklärungsansätze für Zustands- und Verhaltensfassetten innerhalb der Kluft zwischen Kampf/Flucht und Entspannung. Eben deshalb lohnt es sich, nochmal genauer hinzusehen, wenn es darum geht, die drei Schaltkreise des autonomen Nervensystems voneinander abzugrenzen.

Ist der vordere Vagus-Ast aktiv, ist sozusagen alles gut. Wir sind gesund und es gibt keinen Grund, sich zu sorgen. Zusammen mit den funktionierenden Hirnnerven V, VII, IX und XI umschließt der vordere Vagus-Ast das sogenannte Soziale Nervensystem, dessen reibungsloser Betrieb den Weg ebnet, neue Bekanntschaften zu schließen, Freundschaften zu pflegen, unterstützend und kommunikativ zu sein. Als Zeichen, dass primär der vordere Vagus-Ast aktiviert ist, zählen:

  • offene, wache Augen
  • Augenkontakt
  • entspanntes Gesicht
  • Zugewandtheit
  • Neugier

Ist Gefahr in Verzug (oder sowas ähnliches) schaltet sich der vordere Vagus-Ast ab und der Sympathikus wird aktiv. Nun ist der Körper im Überlebensmodus und bereit, körperliche Höchstleistungen zu zeigen. Erreicht wird dies durch die Erhöhung des Muskeltonus, des Blutdrucks und der Atmung, damit möglichst viel Sauerstoff zur Verfügung steht. Die Kampfreaktion ist jedoch nicht auf körperliche Gewalt begrenzt. Auch verbale Aggression zählt dazu. Ebenso wenig ist mit Fluchtreaktion bloßes Wegrennen gemeint, sondern beinhaltet auch das Meiden bestimmter Orte, Menschen oder Situationen.

Wird der Körper schlaff und schwer, spricht dies hingegen eher für das Aktivsein des hinteren Vagus-Astes und somit für einen Schockzustand. Das Blut sammelt sich in der Körpermitte, weshalb Hände und Füße kalt und feucht werden. Der Gesichtsausdruck ist leer und die Gesichtsfarbe blass. Glaubt man der Polyvagal-Theorie ist hierin auch die Ursache für das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS) zu finden (Rosenberg, 2020). Da das autonome Nervensystem nicht mehr richtig funktioniert, erfolgt beim Positionswechsel vom Liegen oder Sitzen ins Stehen keine Anpassung von Blutdruck, Herzfrequenz und Gefäßtonus.

Und was tut man da?

Nun kommt es darauf an, warum das autonome Nervensystem in ein Ungleichgewicht geriet. Liegt eine Instabilität der Kopfgelenke zugrunde, empfiehlt Dr. Hauser eine Prolotherapie, also grob umschrieben eine Straffung zu flexibel gewordener Haltebänder durch präzise Injektionen. In Deutschland kann man so eine Therapie in Anspruch nehmen, allerdings kann ich keine Aussage zu deren Qualität treffen. Vielleicht konnte einer meiner Leser bereits Erfahrungen sammeln?

Ansonsten gibt es wie immer auch Möglichkeiten, sich selbst zu helfen, ohne dabei großartige Risiken einzugehen. Bestimmte Übungen aus dem Büchlein von Stanley Rosenberg empfinde ich für mich als kleine Notfallhelfer als sehr geeignet. Einfach abkopieren möchte ich sie aber lieber nicht, deshalb gibt’s zum Abschluss noch fünf bis sechs Impulse aus meinem persönlichen Repertoire.

Fünf bis sechs Vagus-Übungen

Tiefes Durchatmen

Klingt ein bisschen banal, ist aber äußert effektiv. Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich mich dabei ertappe, wie oft ich besonders in Gegenwart meiner Schwiegereltern ganz viel Luft einsauge und beherzt wieder auspuste. 😉

Mit den Ohren wackeln

Wer kann, der kann. Das heißt: Wer mit den Ohren wackeln kann, so wie ich, kann gern mal versuchen, gleichzeitig die Augenbrauen zu heben. Dadurch wird der VII. Hirnnerv (Nervus facialis) angesprochen und auf diesem Weg ebenso der vordere Vagusnerv.

Singen

Der Vagusnerv verläuft entlang der Luftröhre und des Kehlkopfes. Singen versetzt ihn sozusagen in Schwingungen.

Bewegung im Grünen

Der vordere Vagusnerv liebt es, an der frischen Luft zu sein und spazieren zu gehen. Der Sympathikus hat in solchen Momenten quasi Sendepause.

Kalt duschen

Menschenfressende Monster wären kein Problem, doch sobald kaltes Wasser im Spiel ist, zieht sich der Sympathikus zurück. Der Nachteil ist allerdings: Kaltes Wasser ist meistens ganz schön kalt. 😉

Kaugummi kauen

Nicht gerade die feine englische Art, aber dafür umso effektiver gegen Angstzustände. Kaugummi ist sehr beliebt bei meinem vorderen Vagusnerv. Allerdings bevorzuge ich xylitfreie Varianten, denn ich bin kein Fan von Durchfall.


Fouradoulas, M. et al. (2019). Herzfrequenzvariabilität – Stand der Forschung und klinische Anwendbarkeit. Praxis Journal of Philosophy. Hogrefe.

Heart rate variability: standards of measurement, physiological interpretation and clinical use. Task Force of the European Society of Cardiology and the North American Society of Pacing and Electrophysiology. (1996). Circulation, 93(5), 1043–1065.

Porges, S. W. (2010). Die Polyvagal-Theorie: Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung. Junfermann Verlag.

Rosenberg, S. (2020). Der Selbstheilungsnerv. So bringt der Vagus-Nerv Psyche und Körper ins Gleichgewicht. VAK.


(Foto: Gelatin – pexels.com)