Wenn zwei (oder mehrere) Körper an ihren Geschlechtsteilen miteinander verschmelzen, spricht man von Sex. So weit, so gut. Vielleicht glimmt bei dem einen oder anderen eine nebulöse Erinnerung auf. Aber irgendwie komisch, oder? Was hat Sex in diesem Blog verloren?
Chronisch Kranke haben keinen Sex
Chronisch Kranke haben wahrscheinlich gar keinen Sex, besonders nicht die mit wackeligen Kopfgelenken. Denn wie sollte das aussehen?
„Ich bin so unglaublich heiß auf dich, du geiles Stück! Ich will dich! Jetzt! – Aber warte kurz, ich muss erst meinen Nacken polstern.“
Zum Sex gehört auch Lachen, stimmt’s? Nur hat eben alles seine Grenzen. Als gesunder Partner muss man sich mit der Zeit doch ganz schön hilflos vorkommen – trotz Verständnis. Zum Beispiel weil ein wieder und wieder mit Auflagen verbundenes/unbefriedigendes/gar nicht erst stattfindendes Liebesspiel wie ein Zuviel dessen ist, was man eigentlich nicht sehen will: Die schöne Zeit zu zweit ist weg und schlimmstenfalls kommt sie nie zurück. Gerade CCI, eine Erkrankung, die man nicht sehen kann, stellt sich wahrscheinlich manchmal wie das berühmte Stückchen Fleisch an der Angelschnur dar.
Sex ist zum Glück nicht alles, fiept gerade eine freundliche Mahnung in meinen Ohren. Beziehungen erfüllen heutzutage tiefgründigere Ansprüche. Das Füreinanderdasein zählt! Und das stimmt auch. Denn wenn Sex alles wäre, säße ich nicht schreibend hier, sondern stünde vermutlich vor meinem – jetzt haben wir es beinahe 15 Uhr plus die Zeitumstellung – zehneinhalbten Orgasmus. Es gäbe auch keine Krankheiten und niemanden, der sich darüber den Kopf zerbrechen müsste. Absonderliche Vorstellung, nicht? Was aber sagt sie uns? Genau! Mit Schwarz-Weiß-Malerei lässt sich dieses Dilemma nicht auflösen. Menschen haben nun einmal Bedürfnisse.

Halten wir also fest: Es ist total in Ordnung, Sex wichtig zu finden und es ist ebenso in Ordnung, frustriert zu sein, wenn jemand wegen der Krankheit des Partners keinen oder nur wenig davon haben kann. Für mich ist es sogar ein gutes Zeichen. Frust und Ärger entstehen doch nur, wenn Liebe oder zumindest ein auf Attraktion aufbauendes Nähebedürfnis im Spiel ist. Jedenfalls wüsste ich keinen besseren Grund, weshalb einer sich dann nicht einfach eine andere Möglichkeit sucht. Selbstverständlich ist diese schmeichelhafte Vorstellung nicht von vorn bis hinten rosig. Denn sie lässt die Schuldgefühle chronisch Kranker außer Acht. Und diese sind sehr oft, wenn nicht sogar immer da – egal, ob der Partner sich zu arrangieren weiß oder nicht. Das hat damit zu tun, dass Krankheit – und erst recht CCI – sehr viel Vorsicht verlangt, wodurch die dem Sex so viel Anziehung verleihende Unbeschwertheit verpufft.
Wenn man sich als Erkrankter nicht gerade angewöhnt hat, das Bedürfnis nach Sex für etwas absolut verurteilenswertes zu halten, stehen vor allem Vorwürfe im Vordergrund. „Wegen meiner kaputten Wirbelsäule hat er/sie keinen Spaß“, ist so ein Gespenst, das früher oder später auftaucht und langfristig für Missmut sorgen kann. Doch solche Schuldgedanken müssen nicht zwingend in einem geduckten Nebeneinanderher enden. Traut euch und sprecht aus, was euch bewegt. Danach könnt ihr Sex vergessen.
Vergesst den Sex
Das Folgende ist kein Geheimnis, aber ich denke, es darf ruhig formuliert werden: Sex ist heilsam. Nicht jeder Sex, insbesondere wenn es rein mechanisch läuft: rein, raus, rein – das liest sich schon so unheimlich krampfig, nicht? Doch manch einer mit CCI fühlt sich vielleicht hin und wieder unter Zugzwang und kennt es deshalb gar nicht mehr anders: „Mein Partner verdient Sex, also reiß ich mich an guten Tagen zusammen.“

Eben deshalb empfehle ich, Sex zu vergessen. Als Absicht, nicht als Handlung, denn sonst würde meine Geschreibe wohl keinen Sinn ergeben. Stellt euch zum besseren Verständnis jemanden vor, der nachts im Bett liegt und mit aller Kraft einschlafen will, ohne dass es ihm gelingt. Die Absicht, einzuschlafen, blockiert ihn regelrecht, sodass er von Mal zu Mal mehr Angst und Unbehagen davor entwickelt und schließlich zu Tabletten greifen muss. Spannend ist, dass das absichtslose Lümmeln auf der Couch dieser Blockade nicht unterliegt. Die Person schläft ein. Aus Erschöpfung vielleicht. Oder eben doch weil der Plan und somit auch der Druck dahinter fehlt.
Beim Sex ist das ähnlich. Der ist erst richtig gut, wenn er aus einer Umarmung, aus einem Blick heraus, aus einem überwältigenden Kompliment und manchmal auch aus Trost entsteht. Berührung für Berührung, doch niemals, weil es sein muss; niemals, weil Sex eine bestimmte Gestalt annehmen muss. Und ist das nicht beruhigend?

Lasst es passieren
Mein Wunsch ist es, an die verstaubte Offenheit da draußen zu appellieren und dieses ohnehin schon so prüde beiseitegehaltene Thema für chronisch Kranke näher in den Fokus zu rücken. Weniger nach der Tradition schwammiger Ratschläge, wie: „Treibt Sport, ernährt euch gesund und senkt den Stresspegel, dann flutscht das schon.“ Eher nachhakend in Richtung: Wenn Sex noch möglich ist, welche Stellungen könnten für CCI-Geplagte gut funktionieren? Dürfen Betroffene auf Hilfsmittel zurückgreifen? Steigt der ohnehin schon hohe Sympathikus-Tonus beim Sex ins Unermessliche oder sinkt er ab? Hat Sex einen positiven oder negativen Effekt auf die Stabilität der Kopfgelenke? Welche Tipps sind insbesondere für Gesunde wertvoll, um das Liebesspiel für den Partner so angenehm wie möglich zu gestalten? Und: Kann Sex wirklich heilen? Wenn ihr wissen wollt, wie meine Meinung zu all dem aussieht, macht einfach weiter mit dem, was ihr in den letzten Minuten getan habt.
Spielzeug
Instabile Kopfgelenke sind Stressauslöser. Stress wiederum wirkt sich auf den Körper aus wie ein Hurrikan: Das Immunsystem verkümmert, die Muskulatur spannt sich an, der Alterungsprozess wird angekurbelt und sämtliche Wehwehchen chronifizieren sich. Ein wunderbares Mittel dagegen ist Selbstbefriedigung. Und bitte: Wir alle tun es. Ich tue es. Und um ehrlich zu sein, rettete es mich schon aus so mancher Symptomlawine heraus, insbesondere wenn mein Partner nicht verfügbar war. Ob händisch oder mit Hilfe von Spielzeugen: Wenn euch das Bedürfnis überkommt, macht es! Es ist nicht verboten.

Stellungnahme
Rückenleiden im Allgemeinen wurde in Bezug auf Schnedderedeng bereits ein wenig unter die Lupe genommen. Die Löffelchenstellung stellte sich dabei angeblich als suboptimaler heraus, als zunächst angenommen. Empfehlungen richteten sich stattdessen unter anderem in Richtung Missionarsstellung (die klassische Mann-liegt-auf-Frau-Position) und Doggy Style (die so heißt, weil Hunde beim Sex auch so aussehen). Irgendwie kläglich, nicht wahr? Ich meine: Mehr gibt es dazu nicht zu sagen?
Was CCI betrifft: Manchmal kommt es, wie so oft, auf die Komposition an. Ein Stillkissen kombiniert mit der Missionarsstellung zum Beispiel. Kopf und Hals sind gesichert und beide Partner können Augen in Augen ihr Nahsein genießen. Der Vorteil gegenüber speziellen Nackenkissen: Das Stillkissen umfasst die gesamte Breite des Bettes. Es muss somit nicht ständig neu ausgerichtet werden. Günstig ist es, eine Kissenhülle zu nutzen, die unauffällig ist. Also nix mit Bärchen, Blümchen oder anderen Mustern, die daran erinnern, dass man es gerade nur mit zweckentfremdender Hilfe treiben kann.
Ist der Mann von instabilen Kopfgelenken betroffen, kommt die Reiterstellung in Frage. Er liegt dabei unten, sie sitzt auf seinen Schenkeln und bestimmt Tempo und Intensität. Ist wiederum die Frau betroffen, spricht aufgrund der genannten Vorzüge ebenfalls nichts gegen diese Position (natürlich nicht in umgekehrter Form :D), es sei denn, die Halswirbel haben es nicht so gern, lange Zeit übereinandergestapelt zu sein. Macht, was gut tut.
Bezogen auf alle übrigen existierenden Stellungen ist dieser Grundsatz meiner Meinung nach der wichtigste. Es gibt vermutlich keine wirklichen Tabus, keine schwarze Liste, die man zur Sicherheit im Schubfach liegen oder an der Wand hängen haben sollte. Wichtig ist, die Zeichen des Körpers wahrzunehmen und im Liebesspiel zu berücksichtigen. Dabei steht eine gute Kommunikation zwischen den Partnern an oberster Stelle.
Wenn ihr Lust habt und euch traut, lasst mich gern wissen, welche Erfahrungen ihr zu diesem Thema sammeln konntet. Traut sich einer?
Was passiert mit dem Sympathikus?
Zur Erinnerung: Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Komponenten, dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem. Der Sympathikus aktiviert uns, der Parasympathikus entspannt uns. Beide Anteile vereinen sich in einem Nervengeflecht namens Plexus hypogastricus im Beckenraum. Dem Parasympathikus obliegt das Zustandekommen der weiblichen sowie männlichen Erektion, der Sympathikus löst den Orgasmus aus.
Spannend: Bei manchen Männern bleibt der Samenerguss trotz Erektion aus, was zeigt, dass Erektion, Ejakulation und Orgasmus über unterschiedliche Nervenbahnen gesteuert werden. Bei Frauen ist das ähnlich. Die klitorale Stimulation entstammt dem Rückenmark, der vaginale Orgasmus hingegen gelangt über den Vagusnerv ins Gehirn. So können Frauen trotz Querschnittslähmung einen Orgasmus erleben.

Es ergibt sich nun folgendes Problem: Wird der Parasympathikus regelmäßig vom Sympathikus unterdrückt, stellt sich der Effekt des Vorspiels nur mühevoll ein. Der Anlauf für den Orgasmus fehlt, wenn man so möchte. In solchen Situationen ist an Sex nicht zu denken, nicht mal mit entsprechenden Entspannungstechniken. Es sei denn, dass auch hierbei die konkrete Absicht fehlt. Entspannungsübungen werden nicht stumpft durchexerziert, sondern sie entstehen in Abwesenheit einer konkreten Absicht zum Beispiel beim gemeinsamen Kuscheln. Der Orgasmus ist hierbei nicht das Ziel, sondern das gedankenlose Ineinanderverschlungensein, woraufhin kommt, was eben kommt. Umso schöner, wenn der Orgasmus dann wie ein unerwartetes Feuerwerk ausbricht.
Beim Höhepunkt ist nun wieder der Sympathikus an der Reihe. Hinterher flutet sich der Körper mit Glückshormonen, den sogenannten Endorphinen, die gegen Stress, Kopf- und Rückenschmerzen wirken. Mehrere Stunden können wir von diesem sorgenfressenden, biochemischen Cocktail schöpfen und seinen positiven Einfluss auf den Muskeltonus und den Bandapparat genießen.
Glücksgefühle kriechen in jede Körperritze. Insofern hat Sex meiner Meinung nach einen überaus positiven Effekt auf die Stabilität der Kopfgelenke, wenn (!) sich dieser innerhalb der individuellen Wohlfühlzone abspielt. Denn erst dann befinden sich schwere Gedanken außerhalb unserer Reichweite. Und das ist die mit Abstand beste Voraussetzung für Heilung.
Tipps für gesunde Partner
Im Grunde gilt die Etikette für das Liebesspiel unter Gesunden ebenso für chronisch Kranke: Rücksicht, Ehrlichkeit und Spaß daran. Damit das gut klappt und der Kopf im entscheidenden Moment frei ist, sollte im Vorfeld genau besprochen werden, welche Bewegungen für den Partner unangenehm oder sogar gefährlich werden könnten. Nochmal: Sex sollte nicht erzwungen werden, weil er mal wieder dran ist. Allein dieser Grundsatz ist ungemein entlastend und kann schon ausreichen, dass selbst ein CCI-Geplagter für die eine oder andere Überraschung sorgt. Beide Partner können dann in schlechten gesundheitlichen Phasen von diesen schönen Momenten zehren und die Vorfreude auf ein nächstes Mal kurbelt wiederum die Heilprozesse an.
Trotz meines Optimismus möchte ich allerdings unterstreichen: CCI kann ein echtes Arschloch sein. Mit Stromstößen im Hirn ist Sex keine Option. Auch nicht mit Drehschwindel oder wenn die innere Unruhe derart überkocht, dass man sich am liebsten die Haut abschälen und aus dem Körper ausbrechen will. Trockenphasen gehören dazu, ob man es möchte oder nicht. Aber wie war das? Sex ist zum Glück nicht alles. Ach nein, Halt! In schlechten Phasen von den guten zehren. Es kann nach einem Symptomeinbruch allerdings sein, dass gute Phasen niemals mehr auftauchen. So ehrlich möchte ich an dieser Stelle sein.

Schlussstrich
Mit Krankheit verbindet man alles, nur nicht Sex. Doch ich möchte meine obige Behauptung revidieren und stattdessen eine andere aufstellen: Chronisch Kranke haben sehr wohl Sex – wobei es natürlich immer darauf ankommt, um welche Erkrankung es sich handelt, welche Einschränkungen sie verursacht, ob Sex in der Beziehung eine Rolle spielt und ob er nicht sogar kontraindiziert sein könnte.
Für CCI gilt genau das Gleiche. Je nach Schwere ist Sex ein Thema oder eben nicht. Möglich sind lange Durststrecken gefolgt von sehr aktiven Phasen. Wenn die Symptome allerdings ein gewisses Ausmaß erreichen, wird Sex für beide Partner verständlicherweise zu einem unwichtigen Gut. An erster Stelle steht dann eher der Wunsch nach besseren Zeiten und danach, dass es dem betroffenen Partner besser geht. Genau diese Konstellation greift mein Text natürlich nicht auf, sondern, wie in letzter Zeit üblich, die leuchtende Seite der Medaille.
(Foto: tofroscom, jessica ticozzelli, anna shvets, cottonbro, cottonbro – pexels.com)
Heike Klotz
Liebe Christin, Dein Artikel ist wieder mal sehr erfrischend und toll geschrieben.
Ich weiß noch, wie wir das erste Mal wieder Sex hatten. Ich lag da wie ein Brett „bloß nicht bewegen“. Ich erzählte es meinen Freunden und wir haben Tränen gelacht. Mein Mann hat große Angst und traut sich nicht mehr richtig. Was ich verstehe, da es beim letzten Mal etwas zu viel war und es mir sehr schlecht danach ging. Ich musste ihn erstmal wieder aufbauen. Aber wir haben teilweise mehr Intimität als gesunde Paare, denn die Liebe und der oft damit verbundene Sex hat sehr viele Facetten. Liebe Grüße Heike
christin
Vielen Dank für deinen offenen und ehrlichen Kommentar! Mir gefällt besonders, dass er eine der positiven Seiten unserer Erkrankung herausstellt. Diese besondere Form der gegenseitigen Achtsamkeit kann wirklich sehr schön und auch erotisch sein. Klasse Input!