Es ist jedes Jahr das Gleiche: Kurz vor Silvester überlege ich, was in den nächsten zwölf Monaten anders laufen soll.


Ich sterbe irgendwann

Gute Vorsätze werden aufgestellt, die gerade so vage klingen, dass mein Leben im gewohnten Rhythmus weiterplätschern kann. Wie bescheuert das eigentlich ist, begreife ich erst, seitdem ich weiß, dass ich sterben werde. Irgendwann.

Mir gebührt dafür selbstredend keinerlei Mitleid. Mitleid bekommen nur diejenigen, deren Tod sich nicht länger leugnen lässt. Eigentlich paradox, nicht? Denn was manchen Menschen bereits heute passiert, passiert jedem von uns. Irgendwann. Morgen. Heute. Jetzt. Ohne Ausnahme.

Aber wer will das wissen? Was hätte man schon davon? Der Tod kommt, haben wir alle gelernt, doch das Entscheidende dabei ist, ihn so lange wie möglich auf Abstand zu halten, nicht wahr? Alles andere wäre irgendwie schräg, ja geradezu widerspenstig.

Die meisten Menschen leben, als gehörte ihnen die Unendlichkeit.

Wie gut, dass es unserer modernen Medizin so fabelhaft gelingt, Menschen weit über ihren Tod hinaus am Leben zu erhalten. Für jedes Problem gibt es ein Werkzeug, wie für ein Auto – mit dem Unterschied, dass Autos, nachdem sämtliche ihrer Komponenten versagt haben, nicht länger über Straßen gezogen werden, sondern in der Schrottpresse landen. Menschen sind natürlich keine Autos – obgleich sie oftmals so behandelt werden -, darum versteht es sich von selbst, dass ihnen das Sterben so lange wie möglich untersagt zu sein hat. Und nicht anders wollen wir es haben, oder?

Ja, wenn wir könnten, wir würden gewiss ewig leben. Und seht euch um: Die meisten Menschen leben, als gehörte ihnen die Unendlichkeit. Was spielt es da noch für eine Rolle, wann und ob jemand damit beginnt, seinem Leben Sinn zu verleihen?

Wieso war ich nicht ich?

Nun, offenbar spielt es eine Rolle und zwar spätestens wenn unser Tod absehbar geworden ist. Schlimmstenfalls fällt uns dann auf, dass unser Leben bislang völlig leblos war. Ich meine: Wo war der Spaß? Wo war die Liebe? Wieso habe ich nicht getan, was ich wirklich wollte? Wieso habe ich immer nur versucht, anderen zu gefallen? Wieso war ich nicht ich?

Ob unser Leben ein erfülltes war oder nicht: Wenn Krankheit und Gebrechen unser Dasein unbequem werden lassen, gleicht der Tod gewissermaßen einer Wohltat oder einem lang herbeigesehnten Retter, der uns aus den Ketten unserer schwächer werdenden Physis befreit. Dieser Freundschaftsdienst kaschiert jedoch nicht das Bedauern, welches wir empfinden, sollte die Rückschau auf unser Leben eher enttäuschend ausfallen.

Umso wichtiger ist es, sich der eigenen Endlichkeit bewusst zu werden, glaube ich, anstatt Jahr für Jahr neue Vorsätze zu erfinden, die einen lediglich hinters Licht führen. Nur wer bereit ist, zu wissen, dass er jederzeit sterben könnte, sieht allen Grund darin, ein bewusstes und lebenswertes Leben zu leben.