Manchmal ist das Leben … nein, ich nenne es nicht ungerecht – aber ich meine es durchaus so. Täglich sehe ich Kleinkinder in ihren Buggys aus Nuckelflaschen Saft zutschen, Schokolade knabbern oder Kaubonbons zerkauen – alles scheinbar völlig folgenlos. Unser Sohn jedoch, der nur Muttermilch und Wasser trinkt, Brokkoli für Nachtisch hält und Karotten feiner zu raspeln weiß als unsere Küchenreibe, plagt sich mit Karies. Im Ernst jetzt?!
Wieso habe ich nichts bemerkt?
Es fiel mir vor längerer Zeit beim Herumalbern und Knuddeln auf: An einem der oberen Schneidezähne unseres Kleinsten, direkt am Zahnfleisch, klaffte eine zackige Mulde – ganz unscheinbar und dennoch besorgniserregend. Als ob ein winziger Eispickel dort sein Unwesen getrieben hätte.
Zuverlässig ergriff mich mütterliche Hysterie. Ich schnappte das Telefon, kündigte unser Zahnärztin unser sofortiges Erscheinen an und schmiss uns beide wie Betonsäcke ins Auto – zermarternde Fragen und Vorwürfe selbstverständlich inklusive:
„Was ist das an seinem Zahn?“
„Ist ein Stück abgebrochen als er neulich hingefallen ist?“
„Wieso habe ich nichts bemerkt?“
„Wieso habe ich es erst jetzt bemerkt?“
„Was für eine behämmerte Mutter bin ich eigentlich?!“
Leider hatte unsere Zahnärztin keinerlei Chance, genauer hinzusehen. Kein Singen, keine Streicheleinheiten, nicht einmal Stillen konnten unseren Liebling ermutigen, für eine Bruchsekunde stillzuhalten. Eng umschlungen, unter Tränen und mit vielen Zetteln und Telefonnummern in der Hand verließen wir zwei die Praxis. „Sie müssen in eine Kinderzahnklinik. Bestimmt muss Ihr Sohn narkotisiert werden“, hörte ich unsere Zahnärztin auf dem Nachhauseweg in drohender Dauerschleife.
Stillen ist retro
Vier Tage später saßen wir im Indoorspielplatz / Wartezimmer einer Kinderzahnklinik. Dort gab es ein Holzhaus, eine riesige Tafelwand, Plüschtiere, Spielgeschirr und die obligatorischen Zahnputzbücher. Unser Sohn hatte größtmöglichen Spaß, doch im Behandlungszimmer fiel seine Stimmung sofort wieder in den Keller. Schon als er den Zahnarztstuhl entdeckte, schrie er lauthals und wehrte sich wie ein Schwein im Schlachthaus. Sein Gebrüll war jedoch die Gelegenheit: Rasch trat die Ärztin an uns heran und begutachtete die ihr leidvoll präsentierten Zähnchen.
„Was geben Sie ihm denn zu essen?“, fragte sie und ließ Vorwürfe durchblitzen. „Gemüse, Obst, Wasser, Muttermilch, ab und zu Fleisch, etwas häufiger Fisch, kaum Süßigkeiten“, zählte ich, da ich mich fühle wie in Untersuchungshaft, widerspenstig auf. „Und womit putzen Sie?“, fuhr sie ihr strenges Verhör fort. „Mit einer Fingerbürste im Wechsel mit einer Kinderzahnbürste“, kotzte ich Antworten und erhielt von ihr die befürchtete Schelte: „Na, das ist schon mal ganz falsch!“ Daraufhin seufzte und dachte ich: „Selbstverständlich ist es das. Denn offensichtlich sitze ich der falschen Ärztin gegenüber. Säßen ich woanders, nämlich dort, wo mir dieser Rat gegeben wurde, bekäme ich jetzt ein dickes Lob. Aber das kann ich mir ja noch abholen…“
„Putzen Sie mit Fluorid, mit normalen Zahnbürsten und…“, spulte die Zahnfee indessen eifrig ihren Text ab und wurde von Sekunde zu Sekunde unfreundlicher. Beiläufig verriet sie uns sogar den Grund dafür: „Ihr Kind hat Karies. Ich höre, Sie stillen noch. Wie Sie sehen, ist das alles andere als gut für die Zähne. Muttermilch enthält schließlich Laktose und das ist Zucker und Zucker ist kariogen und deshalb müssen Sie abstillen.“
„Is klar…“, dachte ich und ließ mich entsetzt aussehen. „Stillen ist schließlich nicht ohne Grund retro. All den von Karies zerfressenen Zähnen aus archäologischen Ausgrabungen von Steinzeitmenschen hätte längst ein Museum gewidmet werden müssen. Hätten die mal besser nicht so viel Muttermilch getrunken, sondern Fluoridtabletten geschluckt, diese Deppen“ … dachte ich und war furchtbar traurig. Unser kleiner Obst- und Gemüseesser hat Karies! Wegen meiner Milch?!
Spätestens zu diesem Zeitpunkt entwich mein gesamtes Vertrauen in diese Zahnärztin. Dennoch habe ich mich nicht in eine Diskussion verstricken lassen – wer diskutiert schon mit jemanden, der einen Titel trägt? Aber im Ernst jetzt: Abstillen als Mittel gegen Karies?! Bin ich im falschen Film? Gilt Abstillen neuerdings als Garant für beste Überlebenschancen innerhalb des Darwin’schen Selektionsprozesses?! Oder gar als Sündenfall(e)?! Hä?!
Karies trotz Muttermilch
Ich verrate euch meine Meinung: Es kann durchaus sein, dass gestillte Kinder Karies bekommen. Doch wenn das passiert, passiert es nicht durch Muttermilch, sondern allenfalls trotzdem. Mutter Natur wird Milchbrüste nicht aus Schikane konzipiert haben, sondern weil sie Vorteile bieten. Karies hingegen ist ein von Menschen gemachtes, relativ junges Problem.
Aber ja, schon klar, ich bin keine Zahnärztin. Und deshalb sollte ich womöglich auch keine Meinung zu diesem Thema haben. Experten sind schließlich dazu da, mir diese Denkleistung abzunehmen, nicht? Doch wenn selbst Zahnärzte untereinander Positionen einnehmen, die sich diametral entgegenstehen, bleibt mir doch eigentlich nichts anderes übrig, als mich für eine von ihnen zu entscheiden und – der Konsequenz wegen – alle anderen doof zu finden. Dazu kommt: Lieber gestehe ich mir ein, unserem Sohn nicht gründlich genug die Zähne geputzt zu haben und dies fortan zu verbessern, als ihm für meine Nachlässigkeit die Muttermilch zu entziehen. Also im Ernst jetzt…
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