Einer der liebsten und wichtigsten Menschen in meinem Leben ist ernsthaft krank. Zerbrechlich, ausgehungert – ein Ebenbild der Angst und Suche. Meine Freundin ist magersüchtig.
Skelett im Dirndl
Zwei Tage vor Heiligabend, während einer kleinen Vorweihnachtsfeier, stand sie plötzlich neben mir. In einem fliederfarbenen Dirndl. Heimlich war sie in dieses Kleid hineingeschlüpft, weil sie vorhatte, einem ihrer Lieben auf besondere Art eine Konzertkarte zu überreichen. Wir alle lachten zwar, doch es war unmöglich, uns nicht der bitter schmeckenden Ironie ihres Anblicks hinzugeben. Ein Dirndl ist schließlich ein Kleidungsstück mit gewissen Ansprüchen. Erst wenn jede nur vorstellbare Stofffalte die Körperfülle seines Trägers überspannt, sitzt es perfekt. Meine Freundin jedoch sah darin aus wie ein lebloser Stock inmitten eines riesigen, rahmenlosen Lampenschirms. Ihr Auftritt war wie ein übler Scherz, eine fleischgewordene Karikatur, die nur die Abgebrühtesten zu erschaffen imstande sind.
Nackt
Wenn ich andererseits darüber nachdenke: Was spielt es letztendlich für eine Rolle, was meine Freundin trägt? Ob zu wenig oder zu viel, sie bleibt fortwährend nackt, selbst verpackt in dicken Pullovern. Ihre knochigen, mit hungriger Haut überzogene Arme werden dennoch dünner sein als die Handgelenke unserer fünfjährigen Tochter; ihre Beine werden sich in ärmelengen Jeanshosen verlieren und die Dornfortsätze ihrer Wirbelsäule werden sich durch die überschüssige Haut ihres Rückens bohren. Die Wirklichkeit existiert, völlig gleich, worin sie eingewickelt ist.
Lebenslustlos
Ich bin beunruhigt, doch sie sah schon schlimmer aus – roch markant nach innerlicher Verwesung.
Natürlich möchte man sagen: „Los doch, iss! Dann wirst du gesund!“ – obwohl man in Wirklichkeit meint: „Damit du nicht so schnell stirbst!“
Doch ist es wirklich so einfach? Ist Essen das, worum es geht? Wieso hört jemand überhaupt damit auf? Essen ist doch wichtig. Essen erhält uns am Leben. Doch könnten wir überhaupt leben, selbst wenn wir essen würden, obwohl kein Grund mehr dafür bestünde?
Vielleicht ist es nicht die beste Entscheidung, langsam, Gramm für Gramm, zu verschwinden, doch womöglich ist es die einzig übrig gebliebene. Das Eigentümliche ist doch, dass man etwas erst dann beachtet, wenn es plötzlich weg ist.
Ich hoffe, soweit muss es gar nicht erst kommen.
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