Hier in der Nähe gibt es einen Arzt, den viele Leute „Totengräber“ nennen. Mittlerweile weiß ich auch, warum.


Mein Todestag

Ab 21. Dezember 2017 bin ich gestorben. Nach einer achtlosen Kopfbewegung plusterte sich plötzlich Nebel in meinem Gehirn auf. Mein Körper fühlte sich tot an, als ob er nicht mehr zu mir gehörte. Gleichzeitig spürte ich jeden Reiz um ein Vielfaches intensiver.

An jenem Abend taumelte ich früh ins Bett, obwohl ich am liebsten vom Dach gehüpft wäre. Das Bild vor meinen Augen sprang vor mir hin und her und sobald ich lag, breitete sich ein sogartiges Gefühl in mir aus, das nicht zu ertragen war. Bei dem Versuch, zu schlafen, überkam mich das Gefühl, von einem Wolkenkratzer zu stürzen, währenddessen Lichter an mir vorbeizischten – selbst dann, wenn ich beide Augen geschlossen hielt. Hin und wieder ließ mein Herz die Arbeit einfach ruhen, was für mich so grausam war, dass ich meinen Mann (der eine Etage höher im Büro saß) herbeirief und anbettelte, mich ins Krankenhaus zu fahren. Ich lag im Sterben. So etwas spürt man, denn es ist unverwechselbar. Ich lag im Sterben.

Wäre ich nur liegengeblieben

Eine Neurologin begutachtete mich und prüfte, was ich zugegebenermaßen schon sehr erstaunlich fand, meinen Vitamin-B12-Spiegel (nur leider sieht man sowas nicht im Blut), doch dieser bewegte sich im Rahmen. Da ich meine Gliedmaßen ohne Probleme bewegen konnte, wurde Schlimmeres ausgeschlossen und ich wurde der Obhut einer HNO-Ärztin überlassen. Diese wusste mit mir noch weitaus weniger anzufangen und somit ging es für mich zurück nach Hause. „Wäre ich nur liegengeblieben“, dachte ich auf dem Heimweg.

Überleben

Der Rest der Nacht war die pure Folter und zugleich der Beginn eines noch immer anhaltenden Martyriums, das vor allem aus Schreien und Hass auf Gott besteht. Schlaf geht nicht mehr, weil mein Herz seine Arbeit einstellt. Es wird dunkel und ich merke: Nur wenn ich nicht schlafe, nicht liege, nicht sitze, mich immer irgendwie bewege, kann Blut zu meinem Hirn fließen, kann mein Rückenmark entlastet werden, kann ich überleben.

Dr. Ö

Die Gelegenheit war… ich wollte günstig schreiben, doch besser trifft es lebensnotwendig, mir endlich einen neuen Hausarzt zu suchen. Hier auf dem Dorf hat man jedoch kaum Wahlmöglichkeiten, somit schenkte ich zunächst all mein Vertrauen Dr. Ö, einem Arzt, der in der näheren Umgebung vor allem als Totengräber bekannt ist. Tja, ich verschaffe mir eben am liebsten selbst einen Eindruck.

Zunächst untersuchte mich jedoch Dr. Ö’s Kollege, Dr. Z – den ich jedoch fälschlicherweise für Dr. Ö hielt. Der mutmaßliche Dr. Ö ist ein junger, sehr sympathischer Geselle, der sich in Ruhe all meine Beschwerden anhörte und anschließend ein typisch schulmedizinisches Vorgehen festlegte: Für das Herzproblem sollte das Herz mittels Langzeit-EKG kontrolliert werden, für das Augenproblem sollte ein Augenarzt zurate gezogen werden und für den Rest wurde ein großes Blutbild anberaumt. Selbstredend brachte nicht eine dieser Untersuchungen etwas Auffälliges zutage, doch beschweren wollte ich mich trotzdem nicht. Dr. Ö, der in Wirklichkeit Dr. Z war, hatte sich zumindest Mühe gegeben und das war schon viel wert. Wie ein Totengräber kam er mir jedenfalls nicht vor.

Bösewicht

Als wieder ein Tag anbrach, an dem mein Leben gefühlt am seidenen Faden hing, besuchte ich Dr. Ö abermals. Ich hoffte, er würde alles in Bewegung setzen, mich in ein gutes Krankenhaus zu bringen, obwohl ich wusste, dass sich das mit unserem kleinen Sohn, der auch diesmal mit mir unterwegs war, sehr knifflig gestalten könnte.

Völlig außer Puste erreichte ich die Praxis. Mein Herz flatterte, Schweiß lief mir über die Haut und um nicht in Ohnmacht zu fallen, hielt ich mich fortwährend in Bewegung. Dr. Ö war dieses Mal jedoch mit einem anderen Patienten beschäftigt, somit landete ich bei Dr. Z. „Guten Morgen, Dr. Z.“, begrüßte ich ihn freundlich und wurde sofort eines Besseren belehrt. „Ich bin Dr. Ö!“, antwortete der wahre Dr. Ö schnippisch und ließ sich wie ein Bösewicht auf seinem Stuhl nieder.

Mir blieb die Spucke weg

„Was haben wir denn?“, fragte er und grinste mir hämisch ins Gesicht. Widerwillig erklärte ich ihm, wie schwer mir das Atmen fällt und was mein Herz macht, wenn ich mit unserem Hund nur wenige Meter Richtung Wald laufe. Ich beschrieb ihm, wie ich Nacht für Nacht im Sterben lag, und die Kraftlosigkeit in meinen Gliedmaßen. Als mir schließlich die Tränen kamen, sagte er jedoch nur:

„Also, Christin, der liebe Dr. Z hat ja schon alles untersucht. Wie wäre es, wenn du nicht so unzufrieden bist und uns Ärzten nicht auf die Nerven gehst? Du bist einfach kaputt, denn du hast ja auch zwei Kinder. Am besten, du nimmst ein paar Vitamine und ruhst dich mal aus.“

Mir blieb in diesem Moment die Spucke weg. Hatte mich dieser Kerl gerade geduzt? Nicht, dass ich es nicht begrüßen würde, menschlicher Nähe Vorzug vor unnützen Förmlichkeiten zu geben, doch das war alles andere als menschlich! Dieser Mann, der sich Arzt nannte, besaß tatsächlich die Frechheit, meine Ängste wie Müll beiseitezukehren, um mich stattdessen grinsend zu demütigen… Totengräber passt wie die Faust aufs Auge, dachte ich nur, verließ weinend die Praxis und beschloss, dort nie wieder aufzutauchen – selbst wenn mir Arme und Beine abfaulen sollten.


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