„Wenn du Hufgetrappel hörst, denk an Pferde, nicht an Zebras.“ Denn dass das Wahrscheinliche passiert, ist eben oft wahrscheinlicher als das Eintreten dessen, was weniger wahrscheinlich ist – es sei denn, man lebt in Afrika.


Gestreifte Pferde

Weit außerhalb des gewöhnlichen und sich vertraut anfühlenden Krankheitsspektrums kann es vorkommen, dass einem auf der Suche nach einer Diagnose viele Ärzte begegnen, die selbst mitten in Afrika felsenfest glauben, von gestreiften Pferden umgeben zu sein. Chronisch Kranke, besonders die mit CCI/AAI, begegnen in Laufe der Zeit oft bis zu dreißig oder vierzig dieser Pferdenarren, die ihnen wieder und wieder zeigen, dass Masse in diesem Zusammenhang nicht automatisch viel Fürsorge hervorbringt, sondern bestenfalls eine bunte Auswahl lauter verquerer Notlösungen.

Diagnostische Drahtseilakrobatik

Wenn sich die Ärzteschaft wenigstens auf eine unpassende Diagnose einigen könnte, möchte man denken. Obwohl das ganze Durcheinander andererseits wunderbar demonstriert, dass Diagnosefindung oftmals so präzise ist wie Drahtseil-Akrobatik unter Alkoholeinfluss.

„Sie haben eine verschleppte Erklärung. Das erklärt eigentlich alles außer den Symptomen, die Sie haben. Zur Abklärung überweise ich Sie an zwanzig weitere Fachärzte.“

Unglücklicherweise ist es nämlich so, dass auf Grundlage eines befremdlich wirkenden Symptomkomplexes im Schnitt zwanzig Ärzte zwanzig unterschiedliche Diagnosen produzieren, die sich mit denen anderer Ärzte beißen wie gelbe Streifen und grüne Kringel. Was der Kollege denkt, wird dabei gern ins Lächerliche gezogen und scheinhöflich als Verlegenheitsdiagnose betitelt. An deren Stelle rückt jeweils ein neues Konstrukt, das (und da sind sich die Experten ausnahmsweise sogar einig) auf Biegen und Brechen die Existenz von Zebras aus allen Überlegung herausfiltert – nur eben besser und unmerklicher als der offensichtlich unerfahrene Kollege.

Die Klassiker

Und so kommt es dann, dass man – (schlimmstenfalls) mit instabilen Kopfgelenken – auf der Suche nach einer Diagnose bei einem seiner Ärzte sitzt, einen Test oder eine Bildgebung durchführen lässt und basierend auf irgendeiner Abweichung krampfhaft einer häufig vorkommenden Erkrankung zugeordnet wird.

Klassisches Beispiel: „Sie haben da einen Bandscheibenvorfall. Das sehe ich in Ihrem MRT. Und weil ich es dort sehe und ansonsten nichts Sehenswertes finde, ist diese Bandscheibe die Ursache all Ihren Übels und nichts anderes.“ Etwas später schüttelt ein anderer Arzt nur den Kopf und sagt: „Die Bandscheibe hat mit Ihrem Problem nichts zu tun, wer hat Ihnen denn sowas erzählt? Am besten, wir vergessen ihre Wirbelsäule und schauen uns lieber an, warum Sie zum jetzigen Zeitpunkt bei mir sitzen, anstatt zu arbeiten. Offensichtlich haben Sie eine psychische Störung. Dafür gibt es tolle Medikamente. Ich empfehle Ihnen einen stationären Psychiatrieaufenthalt unter engmaschiger medikamentöser Beeinflussung.“ Arzt Nummer Drei hält all das selbstverständlich für Humbug und präsentiert die einzig wahre Antwort: „Sie haben eine verschleppte Erklärung. Das erklärt eigentlich alles außer den Symptomen, die Sie haben. Zur Abklärung überweise ich Sie an zwanzig weitere Fachärzte.“

Die Sicht auf Kranke

Als chronisch Kranker möchte man eigentlich nicht im Kreuzfeuer stehen und am Ende doch sich selbst überlassen werden. Als chronisch Kranker möchte man auch nicht zwischen Pest und Cholera wählen müssen, nur, weil diese Diagnosen besser in die Statistik passen. Eigentlich wollen chronisch Kranke nur eines: ganzheitlich betrachtet werden, nicht als Summe ihrer kaputten Teile.

Ich will ja nicht behaupten, dass Ärzte sich nicht genug Mühe geben. Denn das tun Sie meist! Ich bin jedoch davon überzeugt, es täte vielen von ihnen gut, einmal gehörig von ihrem hohen Ross heruntergeworfen zu werfen. Vielleicht käme ihnen dann die Idee, chronisch Kranke nicht bloß als von ihnen abhängige Fallnummern wahrzunehmen. Sondern als Lehrer, die ihren Horizont und somit auch ihr Handlungsvermögen erweitern können. Spräche denn etwas dagegen, von Zebras zu lernen?


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