Wusstet ihrs? Ein gutes Mittel gegen Brechreiz auf längeren Autofahrten ist das Festhalten einer Kartoffel.


Hauptsache alt

Diese Weisheit stammt von einer mir völlig unbekannten und – wie es hieß – sehr alten Frau und wurde mir einst überschwänglich von einer Person offenbart, für die die Anzahl der Lebensjahre augenscheinlich mehr Achtung verdient, als der Weg, den ein Mensch zurückgelegt hat. „Es muss so sein, diese Frau ist nämlich sehr alt und hat Erfahrung“, lautete der Satz, mit dem ich feierlich die Kartoffel der Weisen in Empfang nehmen durfte.

Seinerzeit fragte ich mich: Was ist mit all den jungen Menschen, die im Krieg leben oder hungern? Was ist mit denen, die mit Rucksäcken die Welt bereisen oder schwer krank sind oder verliebt oder verlassen? Ist deren Erfahrungsschatz wertlos, weil sie noch nicht alt sind? Könnte es nicht sein, dass ein junger Weltenbummler mehr über Diversität, Kultur, Bräuche oder Geschichte zu erzählen hat, als ein alter Mensch, dessen Kopf ein Leben lang nur zwischen Zeitungspapier steckte? Ist man nur dann vor Brechreiz gefeit, wenn ein alter Mensch einem eine Kartoffel überreicht?

Erfahrungen sind keine Geschenke

Wisst ihr, was ich glaube? Ich glaube, Erfahrungen lassen sich weder quantifizieren, noch in „gut“ oder „minderwertig“ einteilen. Erfahrungen sind Erfahrungen, kein Münzgeld, das sich zählen lässt und auch kein Produkt, welches pauschal rezensiert werden könnte. Oder müsste. Erfahrungen finden einfach statt.

Manche Menschen verschenken ihre Erfahrungen zwar meist als gut gemeinter Ratschlag oder Kritik. Dabei verhält es sich jedoch anders als bei materiellen Geschenken, die, obwohl sie vielleicht nicht gefallen, aus Höflichkeit niemals abgelehnt werden würden. Hingegen muss jemand, der einen Rat erteilt, insbesondere einen unschön verpackten, hin und wieder Ablehnung in Kauf nehmen. Er kann noch so sehr darauf bestehen, recht zu haben, das einzig Entscheidende ist letztlich: Nicht jeder Mensch versteht Erfahrungen auf dieselbe Weise.

Was vs. wer etwas sagt

Doch bleiben wir lieber bei der Kartoffel – obwohl ich, wenn ich daran denke, vor meinem inneren Auge eine Reihe Punkte träge von links nach rechts treiben sehe. Weil es mich stutzig werden lässt. Es ist nicht so, dass ich diese Idee prinzipiell für abwegig halte – ganz und gar nicht, ich bin schließlich Fan und Befürworter von Placebos. Doch es ist wie so oft im Leben: Entscheidend ist nicht, was gesagt wird, sondern wer etwas sagt. Das, finde ich, ist irgendwie schade.

Ehre und Kritik

Aber versteht mich nicht falsch: Selbstverständlich ehrt uns unser Respekt vor dem Alter und vor solchen Dingen, die auf jeder anderen x-beliebigen Dimension auf einer vermeintlich höheren Stufe stehen. Alter, wenn wir dabei bleiben, lässt Menschen unweigerlich wie Lebensexperten wirken und wer käme schon auf die Idee, einen Experten zu hinterfragen? Doch sollten oder müssen wir wirklich unkritisch sein? Hat es wirklich keine Vorteile, die Erfahrung eines anderen auf andere Art zu konstruieren? Kämen wir, würden wir den Alten und Weisen bedingungslos Glauben schenken, überhaupt noch auf die Idee, uns zu entwickeln?

Bloß keine Wut zeigen

Lasst mich ein anderes Beispiel hervorkramen: Vor einiger Zeit waren mein Mann und ich in eine lebhafte Diskussion verwickelt. Es ging um die Frage, ob es „richtig“ oder ausgesprochen „dämlich“ wäre, einem Vorgesetzen schroff zu begegnen, nachdem dieser mehrfach seine schlechten Launen nach uns geschmissen und uns die Arbeit erschwert hat. Wir erhielten einen sehr interessanten Rat: „Macht euch nicht angreifbar.“ Bedeuten sollte es: Wenn jemand, der Macht über uns hat, angreift, ist es geschickter, so zu tun, als würde es einen kalt lassen. Bloß keine Wut zeigen, oder Enttäuschung, oder Traurigkeit, oder Entsetzen.

Aber warum nicht? Sind Emotionen ein Zeichen von Dummheit? Sind Emotionen irrational? Dies wird zumindest oft behauptet. Dass ohne sie jedoch keinerlei Rationalität möglich ist, wissen die Wenigsten. Doch wie dem auch sei, die Frage ist doch: Was soll aus einer Gesellschaft werden, die das Zeigen von – möglichst „unschönen“ – Emotionen allein den an der Spitze stehenden gestattet und jenen verwehrt, die diesen ungeschützt ausgeliefert sind? „Mach dich nicht angreifbar“ klingt für mich wie: „Wenn du überleben willst, musst du aufhören zu fühlen und bloß funktionieren.“ Nun, das könnte ich so machen. Vielleicht müsste ich sogar, weil dieser Rat von jemandem stammte, der älter ist als ich. Aber ich finde das ganz einfach doof.

Was ich mir wünsche

Ich wünschte, Emotionen könnten für jeden sein, wozu sie in Wirklichkeit da sind: unsere Begleiter, Wegweiser und eine Orientierung für unsere Gegenüber. Als Statussymbol sind sie jedenfalls gänzlich ungeeignet. Und was die Kartoffel betrifft: Ich wünschte, jeder Mensch – ob alt oder jung – würde in gleichem Maße respektiert und kritisiert werden. Allein für sein Sein, nicht dafür, dass er altert.