Die craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) und die craniocervicale Instabilität (CCI) sind zwei komplexe medizinische Zustände, die oft gemeinsam in Erscheinung treten. Beide Erkrankungen teilen nicht nur ähnliche Symptome, sondern beeinflussen sich auch gegenseitig auf funktioneller und neurologischer Ebene. Es lohnt sich also, mal einen genauen Blick auf diese beiden Ärgernisse zu werfen.
Kopf und Kiefer
„Wenn du instabilie Kopfgelenke hast, hast du auch CMD“, las ich neulich, als ich im Internetdschungel nach neuen und bedeutsamen Themen für diesen Blog Ausschau hielt. Und ich denke, da ist durchaus was dran – allein schon wegen der engen anatomischen und neurologischen Verbindung zwischen Kiefergelenk und Halswirbelsäule. Aber auch, weil man es nachlesen kann:
„Die Koinzidenz beider Krankheitsbilder ist, wenn danach gefahndet wird, erstaunlich hoch. Bei dem eigenen Krankheitsgut finden sich bei annähernd der Hälfte aller Kopfgelenksstörungen deutliche Zeichen einer CMD“, betonen Hülse und Losert-Bruggner (2002).
Aber erstmal zur Begriffserklärung – wobei, CCI schenke ich mir diesmal frecherweise. Wer dennoch genauer nachlesen möchte, findet hier die passenden Antworten.
CMD
CMD steht für craniomandibuläre Dysfunktion und ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe von funktionellen Störungen im Bereich des Kiefergelenks, der Kaumuskulatur und der dazugehörigen Strukturen. Diese Störungen können eine Vielzahl von Beschwerden verursachen, auch solche, die weit über den Kieferbereich hinausgehen.
Es können sowohl strukturelle als auch funktionelle Ursachen zugrundeliegen. Zu den zentralen Problemen zählen (vereinzelte Symptome könnt ihr hier nachlesen):
- Fehlfunktionen des Kiefergelenks: Etwa Knacken, Knirschen oder Blockaden.
- Ungleichgewicht in der Kaumuskulatur: Über- oder Unterbelastung bestimmter Muskeln.
- Probleme im Zusammenspiel von Kiefer, Schädel und Halswirbelsäule
Na, da haben wir’s doch schon. Kiefer und Halswirbelsäule haben anscheinend wirklich etwas miteinander zu tun. Aber was eigentlich genau?
Anatomische und neurologische Verbindungen
„Der Kopf wird von der Nacken- und prävertebralen Muskulatur auf den Kopfgelenken balanciert. Einen erheblichen Instabilitätsfaktor stellt in diesem System die Beweglichkeit der Mandibula im Kiefergelenk dar“, beschreiben Hülse und Losert-Bruggner (2009).
Bedeutet: Entscheidend für die Stabilität und Ausbalancierung des Kopfes ist die Beweglichkeit des Unterkiefers (Mandibula), da Kieferbewegungen direkt mit der Kopf- und Halsmuskulatur verbunden sind.
Neuhuber (2007) erklärt: Wenn der Kopf nach vorne geneigt werden soll, können die Muskeln oberhalb und unterhalb des Zungenbeins (supra- und infrahyoidale Muskulatur) dies effizient steuern. Zum Öffnen des Kiefers müssen andere Muskeln, wie die Zungenbeinmuskulatur, den Unterkiefer nach unten ziehen. Gleichzeitig muss die Nackenmuskulatur stabilisieren, und die Kaumuskeln (Unterkiefer-Adduktoren) müssen entspannt sein.
Wenn der Kiefer weit geöffnet werden soll, müssen die Nackenmuskeln den Kopf zusätzlich nach hinten neigen (reklinieren).
Hülse und Losert-Bruggner (2009) erklären: „Diese kombinierten Kiefer- und Kopfbewegungen sind nur durch eine zentralnervöse Steuerung […] möglich.“
Ok. Und wer oder was steuert da?
Die cerviko-trigeminale Konvergenz
Der Trigeminusnerv, einer unserer zwölf Hirnnerven, ist für die Sinneswahrnehmung und Bewegung im Gesichtsbereich verantwortlich. Er teilt sich in drei Äste – daher der Name:
- V1 (Nervus ophthalmicus): Versorgt Stirn, Augen und Nase.
- V2 (Nervus maxillaris): Zuständig für Wangen, Oberlippe, Oberkiefer und Zähne.
- V3 (Nervus mandibularis): Versorgt Kinn, Unterkiefer und die Kaumuskulatur.
Und jetzt kommt’s: Die Nervenbahnen des Nervus trigeminus reichen bis zu C2 (zweiter Halswirbel/Axis) und verzahnen sich dort mit den Nerven der oberen Halswirbelsäule (C1/erster Halswirbel/Atlas bis C3/dritter Halswirbel), die sowohl die Muskeln der Kopfgelenke als auch die Hirnhaut (Dura mater) in der hinteren Schädelgrube versorgen. Diese enge Verschaltung, auch cerviko-trigeminale Konvergenz genannt, bewirkt, dass Signale aus dem Kieferbereich und der oberen Halswirbelsäule miteinander verknüpft sind. Eine Störung in einem dieser Bereiche kann
- Kopfschmerzen oder Nackenschmerzen verursachen, die schwer zu lokalisieren sind.
- Verspannungen und Bewegungsstörungen der Kopfgelenke auslösen.
- Gleichgewichtsstörungen hervorrufen, da die Nervenbahnen auch Einfluss auf das Gleichgewichtszentrum (Vestibulariskerne) haben.
Hülse und Losert-Bruggner (2009) zufolge ergibt sich daraus: Bei einer Störung dieses Systems – zum Beispiel durch eine Funktionsstörung im Kiefergelenk oder Probleme in der Halswirbelsäule –, kann das gesamte Gleichgewicht und die Bewegungssteuerung von Kopf und Kiefer beeinträchtigt werden.
Kopp et al. (2004) werden sogar noch deutlicher, indem sie äußern: Ohne eine stabile Wirbelsäule gibt es keine stabile Okklusion (Zahnkontakt) und ohne stabile Okklusion keine funktionsgesunde Wirbelsäule.
Eine komplexe kinematische Kette
Schaut mal, wie Neuhuber (2007) das verwirrende Zusammenspiel von Schädel, Unterkiefer und Hals- und Brustwirbelsäule veranschaulicht hat:
Der Kiefer ist demnach ein Teil einer sehr komplexen, geschlossenen kinematischen Kette, die folgende Komponenten beinhaltet:
- Kiefergelenke
- Kaumuskeln
- Halswirbelsäule
- hintere Nackenmuskulatur
- suprahyoidale Muskulatur (obere Zungenbeinmuskulatur)
- infrahyoidale Muskulatur (untere Zungenbeinmuskulatur)
- Zungenbein
- M. sternocleidomastoideus (Kopfdreher)
- Schultergürtel
Alles hängt also zusammen. Und dennoch drängt sich lösungsorientierten Zebras die Frage auf: Wird CCI nun durch CMD ausgelöst oder ist es eher andersrum? Irgendwo muss man schließlich ansetzen.
Henne dann Ei – CMD durch CCI
Mal wieder so eine typische Henne-Ei-Frage, was? Aber der gehen wir jetzt einfach mal auf den Grund. Laut des Artikels von Hülse und Losert-Bruggner (2009) kann CCI CMD-Symptome auslösen oder verstärken. Und zwar passiert das, indem Instabilitäten im Bereich der oberen HWS zu muskulären Verspannungen und Fehlhaltungen führen, die wiederum das Kiefergelenk belasten. Der Artikel zeigt dies anhand des Schleudertraumas:
„Bei diesen Fällen fand sich eine Kiefergelenkstörung, die, obwohl entsprechende Kieferbeschwerden drei Stunden nach dem Unfallereignis aktenkundig waren, nie im Zusammenhang mit dem Unfall gesehen wurden.“
Im 2002 erschienenen Artikel der beiden Autoren heißt es außerdem:
„Eine Kopfgelenksblockierung führt sehr häufig zu einer Kieferfehlstellung. Wird eine Schienenbehandlung ohne vorherige Lösung der Kopfgelenksblockierung durchgeführt, wird die Schienenbehandlung eine Kopfgelenksstörung fixieren und so das gesamte Krankheitsbild der CMD und der Kopfgelenksblockierung weiter chronifizieren.“
Ei dann Henne – CCI durch CMD
Ihr ahnt es schon: Das Henne-Ei-Problem bleibt aufgrund der Komplexität des Körpers ein Problem. Denn auch CMD kann biomechanische Ungleichgewichte erzeugen, die die Halswirbelsäule belasten. Eine Untersuchung von Walczyńska-Dragon et al. (2014) mit 60 Patienten, die an CMD, Schmerzen in der HWS und eingeschränkter Beweglichkeit der Halswirbelsäule litten, fand heraus, dass die Behandlung mit einer Okklusionsschiene nicht nur die Funktion des Kiefergelenks verbesserte, sondern auch die Beweglichkeit der Halswirbelsäule deutlich steigerte und die Schmerzen reduzierte. Nach drei Monaten zeigten Patienten der Behandlungsgruppe signifikante Verbesserungen im Vergleich zur Kontrollgruppe, die lediglich Anweisungen zur Selbstkontrolle erhielt.
Der Umkehrschluss lautet: Wenn eine CMD-Behandlung die Beweglichkeit der Halswirbelsäule verbessern kann, muss CMD durch reflektorische und muskuläre Verschaltungen einen direkten Einfluss auf die Halswirbelsäule haben.
In der Praxis bedeutet das: Probleme im Kiefergelenk oder in der oberen Halswirbelsäule sollten nicht isoliert betrachtet werden. Sie beeinflussen sich gegenseitig und müssen somit gemeinsam unter die Lupe genommen und entsprechend behandelt werden. As simple as that.
Schade eigentlich
Wenn diese Zusammenhänge jedoch nicht beachtet werden, haben sie keinen Nutzen. Sagt übrigens auch Marx (2000). Er verdeutlicht: Im Medizinstudium wird zwar über Kieferorthopädie und Zahnheilkunde gesprochen, aber die Funktionsstörungen des kraniomandibulären Systems und deren Einfluss auf das Bewegungssystem werden kaum thematisiert. Schade eigentlich, denn Ärzte berichten häufig, dass Patienten nach einer CMD-Therapie Verbesserungen bei Gesichtsschmerzen, Migräne und Muskelverspannungen wahrnehmen. Trotzdem wird die Kiefer-Körper-Verbindung beiseitegeschoben, frei nach dem Motto: „Alles Zufall.“
Wirklich alles Zufall?
Dabei existieren mittlerweile viele wissenschaftliche Belege, die deutlich zeigen, wie weitreichend diese Verbindung ist.
Eine 2009 in Deutschland durchgeführte Studie zeigt zum Beispiel, dass die pathologische
Spannung in der Becken-Hüft-Region abnimmt, sobald Kiefergelenkfehlfunktionen
behandelt werden bzw. dass die myofasziale Entspannung des Kiefergelenks den Bewegungsbereich der Hüftgelenke deutlich vergrößert. Das bewusste Zusammenpressen des Kiefers reduziert wiederum die Beweglichkeit der Hüftgelenke (Fischer, et al., 2009).
In einer anderen Studie wurde gefunden, dass die Kieferstellung, insbesondere die Gesichtsachse und der Unterkieferwinkel, mit der Haltung der oberen Halswirbelsäule korreliert. Dies wurde anhand von cephalometrischen Messungen und einer Video-Stereografie der Wirbelsäule festgestellt (Lippold et al., 2006).
Fink und Kollegen (2003) untersuchten, ob eine funktionale Verbindung zwischen dem craniomandibulären System, der oberen Halswirbelsäule und der sakropelvinen Region (Kreuzbein und Becken) besteht. Um dies zu testen, wurde bei 20 gesunden Studierenden eine künstliche Bissstörung erzeugt. Die Funktionalität der oberen Halswirbelsäule (C0-C3) und des Iliosakralgelenks (ISG) wurde vor, während und nach der Störung untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass während der Okklusionsstörung signifikante funktionelle Einschränkungen in beiden untersuchten Regionen auftraten, insbesondere in Form von Hypomobilität. Dies deutet darauf hin, dass Störungen im Kiefergelenk auch die Beweglichkeit und Funktion von Halswirbelsäule und Becken beeinflussen können.
Der belgische Chiropraktiker Dr. Jean-Pierre Meersseman machte darüber hinaus zufällig eine bemerkenswerte Entdeckung: Bei einem Patienten mit einem „kurzen Bein“, das üblicherweise auf ein schiefes Becken hinweist, konnte er die Beckenstellung ausgleichen – und damit die Beinlänge vorübergehend korrigieren –, indem er Watterollen zwischen die Backenzähne des Patienten legte.
Ja. Sieht nach Zufall aus. Neuroanatomie und das bisschen Forschung – nicht sehr überzeugend. Aber vielleicht hilft Frischhaltefolie.
Die zu unrecht ignorierte Frischhaltefolie
Es gibt da einen guten und eigentlich längst bekannten Grund für den Einfluss des Kiefers auf den restlichen Körper – und umgekehrt: Unsere Faszien. Dieses faszinierende Gewebe lässt sich bildlich wie eine durchgehende Schicht aus Frischhaltefolie vorstellen, die alles miteinander verbindet. Zieht man an einem Ende der Folie, wirkt sich das zwangsläufig auf andere Bereiche aus. Faszien bilden eine ununterbrochene, dreidimensionale Matrix, die von Kopf bis Fuß, von innen nach außen und von vorne nach hinten verläuft. Sie umhüllen Muskeln, Muskelfasern, Nerven, Organe und sogar Knochen und sorgen dafür, dass alles an seinem Platz bleibt. Gleichzeitig ermöglichen sie es dem Körper, sich harmonisch zu bewegen und als integriertes System zu funktionieren.
Faszienierende Funktionen
Eine ganze Weile wurden Faszien als statisches Gewebe missverstanden und ignoriert. Doch mittlerweile weiß man um ihre entscheidende Rolle für Haltung, Bewegung und die allgemeine Gesundheit. Besonders bemerkenswert ist die tiefe Faszie, ein festes, faseriges Bindegewebe, das Muskeln umgibt und zahlreiche Sinnesrezeptoren enthält. Diese sind für Schmerzempfindung, Propriozeption und andere Rückkopplungsmechanismen verantwortlich, die Informationen an das Gehirn übermitteln. Die tiefe Faszie bildet sogenannte myofasziale Ketten, die mehrere Gelenke überqueren und den Körper als Ganzes verbinden.
Eine der wichtigsten myofaszialen Ketten ist die oberflächliche Rückenlinie, die an den Fußsohlen beginnt, sich über den Rücken bis über den Kopf zieht und schließlich am Augenbrauenbogen endet. Wird diese Linie durch Bewegungsungleichgewichte, schlechte Haltung oder Verletzungen gestört, können sich die Auswirkungen über die gesamte Kette ausbreiten. So kann beispielsweise ein Problem an den Füßen den Kiefer beeinflussen – und umgekehrt.
Faszienierend, oder? Und eigentlich ein guter Grund, meinen FaceFormer mal wieder aus der Schublade zu kramen.
Ein Interview mit Prof. Dr. Gumbiller
Zum Schluss möchte ich euch noch für ein aufschlussreiches Interview zum Thema CMD begeistern – von und mit Uli Gottfried und Prof. Dr. Gumbiller, Facharzt für Orthopädie, Dozent für Manuelle Medizin/Osteopathie für Zahnmediziner und eine ganze Menge mehr:
Fink, M. et al. (2003). The functional relationship between the craniomandibular system, cervical spine, and the sacroiliac joint: a preliminary investigation. Cranio : the journal of craniomandibular practice, 21(3), 202–208. https://doi.org/10.1080/08869634.2003.11746252
Fischer, M. J., Riedlinger, K., Gutenbrunner, C., & Bernateck, M. (2009). Influence of the temporomandibular joint on range of motion of the hip joint in patients with complex regional pain syndrome. Journal of manipulative and physiological therapeutics, 32(5), 364–371. https://doi.org/10.1016/j.jmpt.2009.04.003
Hülse, M., & Losert-Bruggner, B. (2002). Der Einfluss der Kopfgelenke und/oder der Kiefergelenke auf die Hüftabduktion: Ein einfacher Test zur Frage, ob eine CMD durch eine HWS-Manipulation beeinflusst werden konnte. Manuelle Medizin, 40(2), 97–100. Springer-Verlag.
Hülse, M., & Losert-Bruggner, B. (2009). Die kraniomandibuläre Dysfunktion: Eine nicht beachtete Pathologie des sog. HWS-Schleudertraumas. Manuelle Medizin, 47(1), 7–15. Springer-Verlag.
Kopp, S., Plato, G., Friedrichs, A., Pfaff, G., & Langbein, U. (2004). Okklusion und Wirbelsäule. Bayerisches Zahnärzteblatt, 10(1), 43–45.
Lippold, C. et al. (2006). Sagittal spinal posture in relation to craniofacial morphology. The Angle orthodontist, 76(4), 625–631. https://doi.org/10.1043/0003-3219(2006)076[0625:SSPIRT]2.0.CO;2
Marx, G. (2000). Über die Zusammenarbeit mit der Kieferorthopädie und Zahnheilkunde in der manuellen Medizin. Manuelle Medizin, 38(4), 342–345.
Neuhuber, W. (2007). Anatomie und funktionelle Neuroanatomie der oberen Halswirbelsäule. Manuelle Medizin, 45(4), 227–231.
Walczyńska-Dragon et al. (2014). Correlation between TMD and cervical spine pain and mobility: is the whole body balance TMJ related?. BioMed research international, 2014, 582414. https://doi.org/10.1155/2014/582414
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