Wenn Ärzte keine klare Ursache für die Beschwerden eines Patienten finden, greifen sie oft zu Begriffen wie „Somatisierungsstörung“ oder „psychosomatische Erkrankung“. Häufig wirken solche Diagnosen wie ein bequemer Ausweg – fast als würde man dem Patienten eine Art Ausmusterungsplakette überreichen. Gibt es denn keine Kriterien, die hier für Trennschärfe sorgen können?


Somatoforme Störungen

Wenn ein Arzt trotz umfangreicher Bemühungen keine Erklärung für ein verwirrendes und hartnäckiges Symptombild findet und sich schließlich ratlos fühlt, kann es vorkommen, dass er seinen Patienten gleich auf zwei Arten enttäuscht. Zuerst, indem er dem Patienten aufgrund unauffälliger Testergebnisse vermittelt, er sei vollkommen gesund. Und dann ein zweites Mal, wenn er die vermeintlich letzte Erklärung aus dem Hut zaubert und dem Patienten nahelegt, er habe eine psychische Störung.

In Frage kommen dabei vor allem die somatoformen Störungen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Betroffene körperliche Beschwerden erleben, die sich nicht durch eine organische Ursache erklären lassen. Dazu zählen laut ICD-10 (siehe nächster Abschnitt):

  • Somatoforme Störungen (F45.0): Patienten erleben multiple, wechselnde körperliche Beschwerden ohne ausreichende organische Erklärung.
  • Somatisierungsstörung (F45.0): Multiple körperliche Symptome ohne organische Ursache über mindestens zwei Jahre.
  • Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1): Eine abgeschwächte Form der Somatisierungsstörung mit weniger ausgeprägten oder kürzer anhaltenden Symptomen.
  • Hypochondrische Störung (F45.2): Patienten sind übermäßig besorgt, eine schwere Krankheit zu haben, obwohl keine organischen Ursachen vorliegen.
  • Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3): hierbei stehen Beschwerden im Vordergrund, die Funktionen eines Organsystems betreffen (z. B. Herz, Magen), ohne dass eine organische Ursache gefunden wird.
  • Anhaltende Schmerzstörung (F45.4): Chronische Schmerzen ohne ausreichende körperliche Ursache.

Abseits davon gibt es psychische Störungen, die zwar nicht zu den somatoformen Störungen zählen, als Erklärung für komplexe Beschwerden aber ebenfalls eine gute Figur machen:

  • Generalisierte Angststörung (F41.1): Körperliche Symptome können zwar auftreten, aber die Hauptmerkmale sind übermäßige Sorgen und Angst.
  • Depressive Episode (F32.x): Eine affektive Störung, die durch depressive Symptome wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Schlafstörungen gekennzeichnet ist.
  • Panikstörung (F41.0): Körperliche Symptome wie Herzrasen und Atemnot sind zwar typisch, aber sie treten in Verbindung mit plötzlichen Angstanfällen auf.
  • Burnout-Syndrom (Z73.0): Offiziell keine psychische Diagnose nach ICD-10, sondern eher als Faktor bei Problemen im Zusammenhang mit der Lebensbewältigung eingestuft.
  • Fibromyalgie (M79.7): Die Ursache ist zwar unklar, und es gibt Überschneidungen mit psychosomatischen Beschwerden, aber es handelt sich um eine rheumatische Erkrankung.

ChatGPT (keine Panik, ich hab’s überprüft) sagt: „Von den somatoformen Störungen wird die undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) am häufigsten diagnostiziert. Dies liegt daran, dass die Kriterien dieser Störung weniger streng sind als bei der klassischen Somatisierungsstörung (F45.0). Patienten müssen keine langanhaltenden, schwerwiegenden Symptome zeigen, sondern können auch mit unspezifischen und kürzer andauernden Beschwerden diagnostiziert werden. Dies macht sie zu einer Art „Auffangkategorie“ für Patienten mit körperlichen Beschwerden, bei denen keine klare organische Ursache gefunden wird.“

Ist noch jemandem, außer mir, der ironische Unterton aufgefallen? Jedenfalls ist dieser Output ein nützliches Sprungbrett. Denn im Folgenden geht’s um die Somatisierungsstörung (F45.0) und die undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1).

Somatisierungsstörung (F45.0) nach ICD-10

Der Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) und die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) legen bestimmte Kriterien für die Diagnose einer Somatisierungsstörung fest.

Gut zu wissen: In Deutschland und den meisten europäischen Ländern wird die ICD-10 als offizieller Standard für Diagnosen verwendet, besonders für Abrechnungen im Gesundheitssystem. Die DSM-5 ist vor allem in den USA verbreitet und wird hauptsächlich von Psychiatern und Psychologen genutzt, besonders in der Forschung. 2022 wurde die ICD-11 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell verabschiedet. Sie ersetzt die ICD-10 und wird nun weltweit schrittweise eingeführt. Länder setzen sie jedoch unterschiedlich schnell um, abhängig von ihren Gesundheitssystemen und Prozessen zur Integration neuer Klassifikationen. Bisher hat sich wenig geändert. In Deutschland wird sie derzeit noch nicht genutzt, da sie zunächst ins Deutsche übersetzt, angepasst und in das bestehende Gesundheitssystem integriert werden muss.

Deshalb gibt’s erstmal die offizielle Definition für Somatisierungsstörung nach ICD-10 – dem bisherigen und noch immer aktuellen Diagnostik-Leitfaden:

„Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die wenigstens zwei Jahre bestehen. Die meisten Patienten haben eine lange und komplizierte Patienten-Karriere hinter sich, sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele negative Untersuchungen und ergebnislose explorative Operationen durchgeführt sein können. Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen. Der Verlauf der Störung ist chronisch und fluktuierend und häufig mit einer langdauernden Störung des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens verbunden. Eine kurzdauernde (weniger als zwei Jahre) und weniger auffallende Symptomatik wird besser unter F45.1 klassifiziert (undifferenzierte Somatisierungsstörung).“

Ein genauer Blick

Eigentlich spricht die Definition der Somatisierungsstörung nach ICD-10 für sich selbst. Trotzdem: Für mich klingt sie wie eine Einladung, die Verantwortung für unklare körperliche Symptome auf den Patienten abzuschieben, anstatt die Grenzen der medizinischen Diagnostik zu hinterfragen. Und es ist sogar noch einfacher, wenn man bedenkt, dass die aufgeführten Kriterien eigentlich keinerlei Gültigkeit besitzen, denn im Zweifel kann man ja immer noch die undifferenzierte Somatisierungsstörung bedienen.

Ihr merkt, für mich ist das ein emotionales Thema. Nicht nur weil ich als Zebra unzählige Male für psychisch krank erklärt wurde. Selbst als ich noch völlig unzebrahafte Beschwerden präsentieren konnte, landete ich in der Psychoschublade. Eine persönliche Geschichten dazu werde ich euch in den folgenden Abschnitten anvertrauen.

Denn jetzt juckt es mir in den Fingern. Ich möchte diese bescheuerte Definition unbedingt zerhackstückeln.

1. „multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome“

Die Formulierung „multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome“ ist so schwammig und lieblos, dass es wehtut. Sie könnte auf nahezu jeden Patienten zutreffen, der an chronischen oder komplexen gesundheitlichen Problemen leidet. Das ist 2022 übrigens auch Li und Kollegen aufgefallen, die in ihrer Studie unter anderem die Somatic Symptom Disorder (SSD)-Häufigkeit bei Brustkrebspatienten untersuchte. Ergebnis: 21,6% von 264 Patienten mit Brustkrebs erfüllen die ähnlich zur ICD-10 formulierten DSM-5-Kriterien einer SSD, was zeigt: Die Definition somatoformer Störungen bietet keine klaren Definitionen oder Grenzen, also können Ärzte diese Kriterien im Grunde je nach eigener Interpretation und Bequemlichkeit anwenden. Dies öffnet im Falle schwer diagnostizierbarer Erkrankungen Tür und Tor für gefährliche Fehldiagnosen und lässt Patienten im Ungewissen über den wahren Ursprung ihrer Beschwerden.

2. „die wenigstens zwei Jahre bestehen

Erst wenn körperliche Beschwerden, deren Ursache nicht geklärt ist, schon mindestens zwei Jahre bestehen, kann eine Somatisierungsstörung in Betracht gezogen werden. Nun könnte man beanstanden, dieser Zeitraum sei willkürlich und unterstreicht umso mehr die Absurdität der Kriterien, die die Somatisierungsstörung stützen. Betrachtet man jedoch den Zweck dahinter, ließe sich glatt eine gewisse Durchdachtheit vermuten. In diesen zwei Jahren haben Ärzte nämlich immerhin die Möglichkeit, eine umfassende medizinische Abklärung durchzuführen, bevor der Fokus vorschnell auf die Psyche rücken darf. Aber wie ChatGPT schon so unschön durchblicken ließ: Die Möglichkeit der Diagnosestellung einer undifferenzierte Somatisierungsstörung wirf genau das über den Haufen. Sind die Kriterien für eine klassische Somatisierungsstörung nicht erfüllt, wird sie unter anderem Namen trotzdem gestellt. Arsch gemacht, wie man so schön sagt.

3. „lange und komplizierte Patienten-Karriere“

Wenn ein Patient bereits eine „lange und komplizierte Patienten-Karriere“ hinter sich hat, ist das meiner Ansicht nach ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser a) um sein Wohlergehen bemüht ist und b) dass das Gesundheitssystem gestört ist, nicht der Patient. Wenn im Ärzteblatt dann aber Folgendes zu lesen ist, wird deutlich, dass es für Mediziner oft nur eine Seite der Medaille gibt: „Selbst wenn Beginn und Fortdauer der Symptome in enger Beziehung zu unangenehmen Lebensereignissen, Schwierigkeiten und Konflikten stehen, sind die Patienten von einer körperlichen Ursache ihrer Beschwerden überzeugt und diskutieren die Möglichkeit einer psychischen Ursache wenig.“
Hach, es ist aber auch wirklich müßig mit diesen hartnäckigen Patienten, was? Die wollen sich partout nicht davon überzeugen lassen, dass ihre Konflikte und Schwierigkeiten nichts mit ihrer ungeklärten körperlichen Symptomatik und einer damit einhergehenden Existenzbedrohung, sozialen Spannungen und Perspektivschwund zu tun haben, sondern all das ist eindeutig als Beweis einer psychischen Störung zu interpretieren.
Wer hat sich eigentlich diesen widerlichen Begriff „Patienten-Karriere“ ausgedacht? Soll das ein Scherz sein? Als ob es für irgendjemanden da draußen erstrebenswert wäre, ständig bei Ärzten rumzuhängen.

Dazu eine kleine persönliche Geschichte:

Eine Zeit lang hatte ich mit wiederkehrendem Fieber zu kämpfen. Das dauerte zwei bis drei Tage, verschwand für etwa eine Woche und brach daraufhin wieder aus. Meine Hausärztin inspizierte mich grob, stellte mir für eine Weile eine Krankschreibung aus und empfahl mir Ruhe. Bald darauf stand ich wieder auf der Matte. Und wieder, und immer wieder. Woche für Woche. Die Untersuchungen blieben die gleichen und erbrachten Mal für Mal die gleichen unauffälligen Resultate.
Als ich eines Tages nach nur kurzem Abstand wieder das Sprechzimmer betrat, rollte meine Ärztin sofort mit den Augen. Ich kam mir ziemlich dumm vor, dass ich trotzdem anfing, ihr von meinem zurückgekehrten Fieber zu erzählen, doch ich hatte wohl noch immer Hoffnung, von ihr eine Erklärung zu bekommen. Sie sagte jedoch nur: „Ja, das hat man eben mal“ und scheuchte mich vor die Tür. Danach betrat ich diese Praxis nie wieder.
Zu Hause stöberte ich im Internet sofort nach einem neuen Hausarzt – und ich fand einen Engel.
Ich durfte sofort vorbeikommen, musste allerdings gute drei Stunden warten. Und wenn es sechs Stunden gewesen wären oder der ganze Tag…
Frau Dr. Bösel war eine Lichtgestalt, anders kann ich es nicht beschreiben. Nachdem ich ihr von den letzten Wochen berichtet hatte, schaute sie mir zunächst genau und lange in die Augen und nahm eine Irisdiagnostik vor. Und dann kam es wie aus der Pistole geschossen: „Mit der Lunge stimmt etwas nicht.“ Daraufhin untersuchte sie mich sehr gründlich, scheuchte mich noch am gleichen Tag in die Radiologie, wo ein Röntgenbild meiner Lunge erstellt wurde, und die Diagnose stand fest: Lungen- und Rippenfellentzündung.

4. „viele negative Untersuchungen und ergebnislose explorative Operationen“

Dass in der Definition betont wird, „viele negative Untersuchungen und ergebnislose explorative Operationen“ seien typisch, ist ein Hohn gegenüber den Betroffenen. Statt das Fehlen eines klaren Befunds als psychisches Problem zu deklarieren, sollte das Gesundheitssystem besser darin werden, mit diagnostischer Unsicherheit umzugehen.

Obendrein setzt dieses Kriterium voraus, dass ein Arzt, dem ein bestimmtes Beschwerdebild vorgetragen wird, stets weiß, welche Untersuchung aus einem Pool zahlloser Möglichkeiten die angemessene ist. Wenn ein Arzt jedoch nicht in der Lage ist richtig zuzuhören oder wenn es zwischen ihm und dem Patienten zu Missverständnissen kommt, wird er sein diagnostisches Vorgehen schlimmstenfalls auf unzureichende Informationen stützen und in der Konsequenz Untersuchungen einleiten, die keinerlei Aussagekraft besitzen. Das wäre jedoch ärztliche Inkompetenz, kein begründetes Indiz für eine psychische Störung des Patienten.

5. „auf jeden Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen“

Der Hinweis, dass die Symptome sich „auf jeden Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen“ können, macht diese Diagnose im Grunde nur noch beliebiger. Es gibt keine Spezifität, keine klaren Anhaltspunkte, die eine Somatisierungsstörung wirklich definieren. Dadurch kann jeder Patient mit unerklärlichen Beschwerden potenziell als „somatisierend“ abgestempelt werden – ein völlig inakzeptabler Ansatz in der modernen Medizin.

6. „chronisch und fluktuierend“

Die Behauptung, der Verlauf sei „chronisch und fluktuierend“, verschleiert, dass viele Patienten erst durch die ständige Ablehnung und das ständige Ignorieren ihrer Beschwerden in diese chronische Situation gedrängt werden. Oft ist es gerade die fehlende Anerkennung und Behandlung ihrer Symptome, die dazu führt, dass sie sich verschlimmern oder über Jahre hinweg bestehen bleiben. Diese „Chronifizierung“ wird dann als Beweis für eine psychische Störung umgedeutet – ein lächerlicher Zirkelschluss, der die Verantwortung von der Medizin auf den Patienten abwälzt.

7. „langdauernde Störung des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens“

Der Verweis auf eine „langdauernde Störung des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens“ dient oft dazu, ein umfassendes Bild von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen zu zeichnen. Diese Formulierung mag auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen, da viele chronische Erkrankungen tatsächlich Auswirkungen auf soziale und familiäre Beziehungen haben. Allerdings wird hierbei vernachlässigt, dass solche Störungen auch eine Folge von unklaren, unbehandelten oder missverstandenen körperlichen Symptomen sein können – nicht unbedingt deren Ursache.

Wenn ein Patient mit unerklärlichen körperlichen Beschwerden auftaucht, ist genau dieser Verweis auf gestörte soziale oder familiäre Beziehungen oft das Einfallstor für eine Psychodiagnose. Ärzte könnten dann argumentieren: „Na sehen Sie, da gibt es ja soziale Probleme oder familiäre Spannungen, die erklären könnten, warum Sie so stark auf Ihre Symptome fixiert sind.“ Dieser Gedankengang erlaubt es, die Beschwerden in das psychische oder psychosomatische Spektrum zu verschieben, ohne sich weiter mit einer möglicherweise komplizierten körperlichen Diagnostik auseinanderzusetzen.

Hoffnungsschimmer ICD-11?

Ihr habt’s gesehen: Die ICD-10-Kriterien für die Somatisierungsstörung sind in ihrer aktuellen Form unscharf, stigmatisierend, verleiten zu Fehldiagnosen und sind damit mordsgefährlich. In der ICD-11 wurden die verschiedenen somatoformen Störungen der ICD-10 unter dem Begriff „somatische Belastungsstörung“ zusammengefasst. Damit wird der Fokus mehr auf das Leiden und die Reaktionen der Betroffenen gelegt, anstatt darauf, ob die Symptome medizinisch erklärt werden können oder nicht. Ob das was Positives ist? Lasst uns draufschauen:

„Die Körperliche Belastungsstörung ist gekennzeichnet durch das Vorhandensein von körperlichen Symptomen, die für die Person belastend sind und worauf eine übermäßige Aufmerksamkeit gerichtet wird, was sich in wiederholten Kontakten mit Gesundheitsdienstleistern äußern kann. Wenn ein anderer Gesundheitszustand die Symptome verursacht oder zu ihnen beiträgt, ist das Ausmaß der Aufmerksamkeit im Verhältnis zur Art und zur Entwicklung der Symptome eindeutig übermäßig. Die übermäßige Aufmerksamkeit wird weder durch geeignete klinische Untersuchungen und Erhebungen noch durch angemessene Rückversicherung gemildert. Die körperlichen Symptome sind anhaltend und treten an den meisten Tagen mindestens mehrere Monate lang auf. Typischerweise können bei einer Körperlichen Belastungsstörung mehrere körperliche Symptome beteiligt sein, die im Laufe der Zeit variieren können. Gelegentlich gibt es ein einzelnes Symptom – in der Regel Schmerzen oder Müdigkeit -, das mit den anderen Merkmalen der Störung einhergeht. Die Symptome und die damit verbundenen Belastungen und Sorgen wirken sich zumindest in gewissem Maße auf die Funktionsfähigkeit der Person aus (z. B. Belastung in Beziehungen, schlechteres Funktionieren im Ausbildungs- oder beruflichen Bereich, Verzicht auf bestimmte Freizeitaktivitäten).

Psychisch krank geht immer

Die ICD-11 verschiebt bei der körperlichen Belastungsstörung im Gegensatz zu den somatoformen Störungen den Fokus weg vom Aspekt „organisch unerklärt“ hin zu den psychologischen und verhaltensbezogenen Reaktionen auf Symptome. Es wird sich nun also darauf konzentriert, wie Menschen auf ihre Symptome oder gesundheitlichen Bedenken reagieren, uninteressant ist hingegen, ob die Symptome physisch erklärbar sind oder nicht. Die Frage „psychisch oder körperlich?“ ist damit obsolet, die Diagnose „somatische Belastungsstörung“ kann in jedem Fall erteilt werden. Was so gut gemeint erscheint, beherbergt meiner Ansicht nach allerdings die Gefahr, dass die Ursachensuche nach körperlichen Erklärungen von einer solchen Zwischendurch-Psychodiagnose überlagert oder dadurch sogar behindert wird, insbesondere wenn man sich mal den zentralen Kern der Definition der körperlicher Belastungsstörung vor Augen führt.

„übermäßig“

Die subjektive Wischiwaschi-Natur der Diagnosekriterien gibt es offenbar auch bei der ICD-11-Definition somatischer Belastungsstörungen. Logisch, denn Belastungsempfinden ist ja von Natur aus subjektiv-wischiwaschi. Nur gilt das eben nicht nur für den Patienten, sondern genauso für den Arzt. Trotzdem wird die Beurteilung, ob jemand „übermäßig“ auf seine Symptome achtet, dem Gefühl des Arztes überlassen – der allerdings durchaus die Neigung haben kann, auf dem Holzweg zu liegen. Das heißt: Patienten, die sich aufgrund unklarer Symptome immer wieder bei Ärzten vorstellen, können als „somatische Belastungsstörung“ diagnostiziert werden, obwohl ihre Reaktion auf ihre Symptome eigentlich angemessen ist und viel eher als wichtiges Signal verstanden werden sollte. Dies gilt insbesondere für Patienten mit seltenen oder schwer diagnostizierbaren Erkrankungen. Dass das Wort ‚übermäßig‘ gleich dreimal in die Definition der somatischen Belastungsstörung eingeflochten wurde, zeugt meiner Meinung nach von einem Mangel an Respekt gegenüber der inneren Stimme von Hilfesuchenden. Ein Patient, der sehr besorgt um seine Gesundheit ist, weil ihm irgendetwas nicht stimmig vorkommt, ist nicht gestört. Er übersetzt lediglich, was ihm sein Körper – sein unersetzliches Zuhause – signalisiert, handelt und präsentiert sich entsprechend.

Einspruch: Patientenverhalten versus Diagnosekriterien

Ihr Lieben, bitte lasst euch nicht unterkriegen. Es ist völlig normal und kerngesund, darauf zu bestehen, genauer untersucht zu werden, wenn ihr spürt, dass etwas mit eurem Körper nicht stimmt. Niemand kennt den eigenen Körper besser als derjenige, der die Verantwortung dafür trägt und es IST ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein, auf weitere Abklärungen zu drängen, wenn rätselhafte Beschwerden auftauchen und/oder bestehen bleiben. Die Diagnosekriterien der Somatisierungsstörung nach ICD-10 definieren jedoch genau dieses Drängen als „krankhaft“ – ein Widerspruch zu dem, was eigentlich ein gesunder Umgang mit der eigenen Gesundheit sein sollte.

Lasst euch nicht abspeisen, sondern sprecht klar und deutlich aus, was so eine Herangehensweise anrichten kann:

  • Stigmatisierung: Ihr fühlt euch nicht ernst genommen und verliert das Vertrauen in das Gesundheitssystem.
  • Chronifizierung der Beschwerden: Weil die tatsächliche Ursache nicht gefunden wird, können die Symptome chronisch werden und euer Leiden verschlimmert sich.
  • Verpasste Chancen auf Heilung: Wertvolle Zeit, die für eine richtige Diagnose genutzt werden könnte, verstreicht, während ihr euch mit einer vermeintlich „psychischen“ Ursache auseinandersetzen müsst.
Kommunikation ist mal wieder alles. (Bild: wirbelwirrwarr)

Erinnert eure Ärzte daran, dass sie euch und euer Körpergefühl brauchen, um einen guten Job machen zu können. Ärzte sind zwar die Experten in der medizinischen Theorie und Diagnostik, aber sie können nur dann fundierte Entscheidungen treffen, wenn sie auf das Wissen und die Empfindungen zurückgreifen, die ihr als Betroffene mitbringt. Euer Körpergefühl, also die Art und Weise, wie ihr Symptome und Veränderungen wahrnehmt, ist ein wertvoller Teil der Diagnosestellung und sollte deshalb nicht unüberlegt als psychische Auffälligkeit etikettiert werden.

Aber damit all das überhaupt Arzt ankommt: Versucht einmal, dem Arzt, der euch von einer Psychodiagnose überzeugen möchte, einen Rollentausch anzubieten. Fragt ihn, was er an eurer Stelle tun und wie er sich verhalten und fühlen würde. Ihr wärt überrascht sein, wie schnell so eine Psychodiagnose vom Tisch sein kann.


Li, J. et al. (2022). Prevalence of DSM-5 somatic symptom disorder in Chinese patients with breast cancer. Psycho-oncology31(8), 1302–1312. https://doi.org/10.1002/pon.5932