Dass dieser Blog eigentlich auch Platz für Privates bietet, vergesse ich manchmal. Ergo gibt’s jetzt eine Portion Grübelpüree, frisch aus meinem Wackelköpfchen.


Embodiment

Seit es mir gesundheitlich so viel besser geht, spinne ich ein bisschen herum. Die Tür zur großen weiten Welt steht für mich wieder sperrangelweit offen, ich muss eigentlich nur durchlaufen und mich ins Abenteuer plumpsen lassen. Doch das Durcheinander in meinem Körper hat sich offenbar nach außen verlagert, so ähnlich wie Dr. Dr. von Lucadou es mit dem Begriff Embodiment beschreibt (Die Einbettung des Menschen in seine Umgebung). Zwar fallen durch mich keine Bilder von den Wänden und meine Gardinen gehen auch nicht regelmäßig in Flammen auf. Dafür muss ich feststellen: In der Welt geht’s ganz schön drunter und drüber.

Bierschaum

Ich glaube, wenn jemand nach langer Krankheit wieder einen vorsichtigen Blick ins Weltgeschehen richtet, ist das so befremdlich wie das Fernsehprogramm nach jahrelanger Fernsehabstinenz. Ungefähr jedenfalls.

Ohne Flachs: Bei meinem letzten Fernseherlebnis nach immerhin zehn Jahren stand ich fast am Rande eines Kulturschocks, als ich mitbekam, wie viel Bierschaum den Zuschauern mittlerweile serviert wird. Und jetzt, nachdem ich ungefähr zehn Jahre für nichts anderes als meine Erkrankung, unsere Kinder natürlich plus das Allernötigste Muse und Konzentration aufbringen konnte, fühle ich mich ähnlich.

Kann man sich vorstellen, oder? Sowohl damals vorm Fernseher als auch jetzt, da sich meine Kanäle allmählich wieder für Weltgeschehnisse öffnen, denke sich unweigerlich: „Ach. Du. Kacke.“

Wer braucht schon Moral

Dazu fällt mir gleich was ein. Neulich Abend sah ich (allerdings nicht im Fernsehen) ein Interview mit einer blutjungen Klimaaktivistin, die offenbar nicht alle Latten am Zaun… – die zu rechtfertigen versuchte, dass sie sich regelmäßig auf Straßen festklebt, oder zumindest dabei behilflich ist. Auf die Frage, wie sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könne, Menschen den Weg zu versperren, die womöglich schnelle medizinische Hilfe benötigen (siehe beispielsweise Zebras und ihre eigenwilligen Symptome), zauberte sie eine erschreckende Antwort aus dem Hut: Man müsse einfach abwägen, ob einem 100 Menschen im Buschfeuer wichtiger seien oder dieser eine Notfall.

Ach, dachte ich insgeheim, so „einfach“ lassen sich also moralische Dilemmas lösen: Indem man gar nicht erst reife Moral entwickelt – und dann allenfalls sehr selektive (siehe dazu übrigens Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung).

Komisch, während der Pandemie hieß es noch: „Jedes Leben zählt“. Wenns ums Klima geht, zählt aber offensichtlich nur, dass der Kleber hält.

Warum sich Zebras nirgends festkleben

Und nein, ich habe nichts gegen Klima- und Umweltaktivismus. Solange es sich um sinnvolle Aktionen handelt, wie die Teilnahme an Ausschüssen, der Schutz bedrohter Pflanzen- und Tierarten, ehrenamtliche Müllbeseitigung (das mache ich) oder – wenn unbedingt Kleber im Spiel sein muss – das Befestigen an chinesischen Schloten. Was es dem Klima bringen soll, wenn Menschen sich auf Straßen festkleben und damit für Wut und Anspannung sorgen, erschließt sich mir aber überhaupt nicht. Ist ja nicht so, dass diejenigen, denen der Weg blockiert wird, prompt denken „Aaaach jaaa! Das Klimaaaa!“, und danach schnurstracks ihr gesamtes Leben umkrempeln. Wenn das gelänge, wären wir Zebras doch längst auf diesen Trichter gekommen, oder?

Nein, es ist zu absurd. Menschen, die man für sich gewinnen möchte, werden mit solchen Aktionen lediglich provoziert. Zum Beispiel weil sie nicht rechtzeitig zur Arbeit kommen, eine Arbeit wohlgemerkt, die in der aktuellen Zeit voller wirtschaftlicher Brandherde, steigender Preise und äußert belastender und vor allem fragwürdiger politischer Beschlüsse sehr wichtig ist.

Bleiben wir doch gleich dabei: Ob manche dieser Klimahelden jemals einen Blick auf die Menschen werfen, denen sie sich in den Weg kleben? Ich meine, wer eine Botschaft senden und damit ein gewünschtes Verhalten anregen möchte, braucht doch wenigstens eine Prise Wissen über diejenigen, die sie empfangen sollen. Hilfreich wäre schon zu erkennen, dass viele Menschen angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen eine Heidenangst empfinden und unter starkem Druck stehen, weil sie wie verrückt strampeln müssen, um existieren zu können. Wenn das Überbringen einer Botschaft für solche Menschen mit noch mehr Belastung und Stress einhergeht, dann ist die Botschaft nicht nur für die Tonne, der Antrieb, Klimaaspekte ins Auge zu fassen, wird obendrein gedrosselt. Also lasst doch diesen Unsinn und sammelt lieber Abfälle auf. Die Umwelt freut sich und unsere Kinder bekommen ein gutes Beispiel.

Im Dschungelcamp

Apropos Politik: Darüber möchte ich eigentlich gar nicht viele Worte verlieren, außer dass mich wirklich schockiert, wie lächerlich das alles wirkt. Hocken da oben denn wirklich nur überbezahlte und kritikresistente Knalltüten, die unser aller Wohlergehen gegen die Wand fahren und trotzdem weiter Vollgas geben? Parallel werden fortwährend neue und absurde bürokratische Irrwege erschaffen, damit es noch schwieriger wird, den Überblick zu behalten. Wehe, wenn dann mal irgendwo ein Kreuzchen fehlt. Das grenzt dann fast an schweren Bankraub.

Diese ganze Energie- und Heizdebatte setzt dem Ganzen noch die Krone auf…

Ich weiß auch nicht. Unser Land kommt mir aktuell vor wie das Dschungelcamp. Es wird gejammert und gelitten und trotzdem mitgemacht.

Die schwarze Liste

Mensch, ich bin vielleicht froh, dass wir dieses Jahr nicht umgezogen sind. Fast wäre es passiert, aber unseren beiden äußerst unzuverlässigen Maklern sei Dank dürfen wir noch ein bisschen in unserem sicheren Hafen verweilen. Vielleicht solange, bis wir endlich das Weite suchen. Vielleicht irgendwohin, wo dieser vermaledeiten Genderei nicht mehr Priorität eingeräumt wird als der Versorgung chronisch Kranker. Vielleicht irgendwo, wo man keine mentale schwarze Liste verbotener Floskeln im Schlepptau haben muss, um bloß niemanden zu beleidigen.

Dass Menschen es durchaus auch mal gut mit einem meinen, kommt den Meisten offenbar gar nicht mehr in den Sinn. Übrigens gilt das ganz besonders für chronisch Kranke, habe ich manchmal den Eindruck. Auf Instagram liest man dann (sinngemäß) solche Posts: „Fragt uns chronisch Kranke doch bitte nicht, wie es uns geht. Das setzt uns stark unter Druck und transportiert außerdem Vorwürfe.[…]“ Oder: „Wenn jemand fragt ‚Hast du heute Zeit?‘ kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Was kann ich dafür, dass ich nicht jeden Tag funktioniere?“ Oder was ich jüngst las: „Wenn ein Baby geboren wird und die Leute sagen ‚Hauptsache, gesund‘, impliziert das doch, dass alles andere nicht erwünscht ist. Was ist mit Kindern, die Trisomi 21 haben?“

Da bin ich schon ein bisschen baff. Ich meine, ist es wirklich nötig, anderen permanent eine böse Absicht zu unterstellen? Ist so ein dunkler Blick auf die Welt nicht tierisch schmerzhaft? Niemand von uns besitzt Röntgenaugen und kann in die Gefühlswelt anderer hineinschauen. Es kann immer mal passieren, dass jemand unbeabsichtigt einen unserer wunden Punkte tritt. Selbstverständlich darf sowas angemerkt werden. Fairerweise sollte man aber auch berücksichtigen, dass jeder unterschiedliche wunde Punkte besitzt. Meiner Ansicht nach ist es dann Quatsch, von seinen Mitmenschen von vornherein permanente Sensibilität zu erwarten. Niemand kann sowas für jeden, der ihm begegnet, leisten – selbst wenn er dieses Ziel verfolgt.

Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, ob ich dieses Jahr in den Urlaub fahre, kann und muss er nicht berücksichtigen, dass dieses Thema aufgrund meiner Erkrankung große Ängste und Frust in mir auslöst – auch wenn er von meiner Erkrankung weiß. Trotzdem habe ich die Wahl: Ich kläre denjenigen auf oder lasse es bleiben. Ganz sicher aber gehe ich davon aus, dass es gut gemeint war. Ich meine: Warum denn auch nicht?

Also bitte: Wer Empathie erwartet, muss auch selbst ein bisschen davon zeigen können.

Chaotisches Grübelpüree Ende. Man muss und kann nicht immer nur sachlich sein. Es darf auch mal so raus, wie es rauskommt.