Manchmal sind in Sachen Krankheit die naheliegendsten Lösungen die besten – sogar für Zebras. Was also spricht dagegen, bei halswirbelbedingten Beschwerden auf… tja… sagen wir mal auf die Zunge zu gucken?


Zungen unter Strom

Wusstet ihr, dass bei hartnäckigen Gleichgewichtsstörungen, also solchen, bei denen weder Medikamente noch Physiotherapie oder ähnliches helfen, unsere Zunge zum Gleichgewichtsorgan werden kann?

Das geht wirklich! Und zwar mittels Neurofeedback.

Kleines Definitiönchen: Neurofeedback ist eine Möglichkeit des Biofeedbacks und umfasst eine Vielzahl von Formen. Generell ließe sich vielleicht sagen, dass beim Neurofeedback mit Hilfe von speziellen Apparaturen neuronale Aktivitäten erfasst und als sichtbarer Output zurückgemeldet werden. Hieraus lassen sich dann beispielsweise therapeutische Schritte ableiten. Ein Beispiel ist das EEG-Neurofeedback, mit dessen Hilfe in Echtzeit Hirnstrommuster aufgezeichnet werden, die unter anderem Auskunft über die Aufmerksamkeit zulassen. Anhand dieser Information kann der Patient eine bessere Selbstregulation erlernen.

Ergibt alles Sinn, oder? Aber in welcher Form kann Neurofeedback auf die Zunge angewendet werden?

Nun, die Zunge ist ein sehr sensibles Bauklötzchen in unserem Körper. Bei Gleichgewichtsstörungen macht man sich das zunutze, indem man sie sozusagen immer dann unter Strom setzt, sobald der Patient das Gleichgewicht verliert. Klingt vielleicht ein bisschen barbarisch, jedoch handelt es sich dabei nicht um echte Stromstöße, sondern lediglich um ein leichtes Kribbeln auf der Zungenseite, die der Schwankrichtung entspricht. Das Training eignet sich aber nur für Stehübungen und ist vor allem für komplexere Gleichgewichtsstörungen ausgelegt, wie nach einem Schlaganfall.

Was im Zweifel alles zum Stellschräubchen werden kann, ist beeindruckend, was? Ausgerechnet die Zunge…

Aber eigentlich kein Wunder, wenn man sich mal betrachtet, worin unsere Sprech- und Schluckvorrichtung anatomisch eingebettet ist.

Die Zunge hält den Kopf

Am naheliegendsten ist dabei vermutlich die enge Beziehung zum Zungenbein. Die Hyoglossusmembran und das linguale Septum verbinden die Zunge wiederum mit den Zungenmuskeln. Die suprahyoidale (Muskeln oberhalb des Zungenbeins betreffend) Zungenaktion hilft nun, das Gleichgewicht und die Haltung des Kopfes zu stabilisieren.

Man könnte sagen: Die Zunge hält den Kopf. (Foto: Alessandra Ale – pixabay.com)

Demonstration gefällig?

Stellt euch barfuß auf ein Bein, die Zunge befindet sich im oberen Teil eures Mundes. Probiert das mit beiden Füßen. Wiederholt diese Übung nun, lasst eure Zunge diesmal aber im unteren Bereich eures Mundes ruhen. Und? Fällt euch etwas auf?

Der Unterschied, den ihr vermutlich wahrgenommen habt, hat damit zu tun, dass die Zunge in enger Beziehung zum zentralen und peripheren Nervensystem steht. Infolgedessen kann man mit der Zungenhaltung Einfluss auf die Arbeit von Gehirn und Rückenmark nehmen.

Gut zu wissen

Gut zu wissen: Die Positionierung der Zunge im Mund ist eine komplexe neurologische Aktivität. Dieser Prozess wird maßgeblich von bestimmten Kernen im Hirnstamm gesteuert, die wiederum Signale über die Hirnnerven an die Zungenmuskeln übertragen. Für die motorische Innervation der Zunge sind gleich drei Hirnnerven, V3 (N. mandibularis, ein Teilnerv des N. trigeminus), X (N. vagus) und XII (N. hypoglossus), zuständig. Vier, wenn man den N. facialis (VII) auch noch dazurechnet.

Interessant ist, dass sensorische Informationen von der Zunge über die Hirnnerven V, IX (N. glossopharyngeus) und X nicht, wie üblich, über den Hirnstamm im Gehirn verlaufen. Stattdessen werden sie auf der Ebene der oberen Halswirbelsäulensegmente über spezielle Neuronen weitergeleitet. Diese enge anatomische Verbindung lässt die Bewegungen der Zunge und die Bewegungen der Halswirbelsäule auf funktionelle Weise verschmelzen. „Dies ist besonders relevant bei manuellen medizinischen Behandlungen, bei denen die seitlichen Bewegungen der Zunge in der Mundhöhle in Verbindung mit der Bewegung der Halswirbelsäule therapeutisch genutzt werden können“ (Wagner, 2022). Auch kann dadurch nachvollzogen werden, warum Patienten bei Blockierungen der oberen HWS häufig ein Globusgefühl beklagen (ebd.).

Übrigens: Wird die Zunge zum Beispiel gegen den harten Gaumen positioniert, sinkt die Aktivität des Parasympathikus, gegen den weichen Gaumen positioniert die des Sympathikus (Schmidt et al., 2009).

Wo die Zunge hingehört

Nun wird klar, wie viel Leistung unserem Gehirn beim Bewegen der Zunge abverlangt wird.

Den meisten Menschen ist vermutlich nicht bewusst, dass ihre Zunge maßgeblich zu ihrem Wohlbefinden, zugleich aber auch zu ihren Beschwerden beiträgt. Andauernder Zungendruck auf die Zähne kann dramatische Konsequenzen für den gesamten Kauapparat haben: wandernde Zähne, Bissprobleme, Zähneknirschen…

Liegen sollte die Zunge jedoch auch nicht, da sich hieraus verschiedene Schmerzbeschwerden ergeben können, besonders im Nackenbereich und im Kiefer. Auch die Körperhaltung leidet und nicht zuletzt sogar die Ästhetik. Einfluss auf die Zungenposition hat wiederum die Atmung. Gibt es hierbei Probleme, ist zugleich auch das ausbalancierte Zusammenspiel der Zungenmuskeln gestört.

Da liegt die Frage nahe, wohin die Zunge denn nun eigentlich gehört?

Die Antwort ist ganz einfach: Das vordere Zungendrittel ruht knapp hinter den oberen Schneidezähnen am Gaumen. Die Zungenspitze drückt dabei nicht gegen die Schneidezähne. Das ist die Zungenruheposition.

Zungenruheposition: Wo die Zunge sein sollte, wenn wir weder reden noch schlucken. (Bild: wirbelwirrwarr)

Wer damit Probleme haben sollte, kann sich helfen. Zum Beispiel mit dem Face-Former, den ihr hier bestellen könnt.

Viel Spaß beim Wohlfühlen!


Schmidt, J. E. et al. (2009). Effects of tongue position on mandibular muscle activity and heart rate function. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod. 108:881–888.

Bordoni, B. et al.(2018). The Anatomical Relationships of the Tongue with the Body System. Cureus, 10(12), e3695. https://doi.org/10.7759/cureus.3695

Wagner F. M. (2022). Die somatische Dysfunktion der Halswirbelsäule und ihr komplexes klinisches Bild : Grundlagen der manualmedizinischen Diagnostik von Zervikobrachialgie und zervikozephalem Syndrom [Somatic dysfunction of the cervical spine and its complex clinical picture : The fundamentals of diagnostics of cervicobrachialgia and cervicocephalic syndrome through manual medicine]. Der Orthopade, 51(4), 263–273. https://doi.org/10.1007/s00132-022-04228-7


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